Der Film „Crosscurrent“ (長江圖 cháng jiāng tú) war der einzige chinesische Film im diesjährigen Wettbewerb der Berlinale und hat sogar einen Preis abgesahnt. Jojo und Lewe waren für sinonerds im Kino und Lulu durfte sogar mit dem Filmteam feiern.
Nebel auf dem Wasser, grauer Himmel, eine winterliche Landschaft voller kahler Bäume und verlassener Ruinen, das Stottern eines Schiffsmotors, der langsam ein altes, verrostetes Schiff flussaufwärts bewegt – die Szenerie von Yang Chao‘s (杨超) Film „Crosscurrent“ ist wirklich keine Werbung für eine Kreuzfahrt auf dem Yangtse. Nichtsdestotrotz sind die Bilder so beeindruckend, dass der Kameramann Mark Lee Ping Bin (李屏賓) den Silbernen Bären für herausragende künstlerische Leistung bekommen hat.
Der chinesische Wettbewerbsbeitrag ist eine zweistündige Reise zurück zur Quelle, zum Anfang, in vielerlei Hinsicht. Der junge Schiffskapitän Gao Chun (高淳), gespielt von Qin Hao (秦昊), soll eine mysteriöse Fracht von Shanghai nach Yibin im Landesinneren bringen. Mit an Bord sind Onkel und dessen Sohn, die schon unter Gaos kürzlich verstorbenem Vater an Bord arbeiteten. Zu Beginn der Reise findet Gao ein altes Heft mit einer Karte des Yangtse (die eine so zentrale Position hat, dass der Originaltitel des Films, wörtlich “Karte des Yangtse”, schon auf sie hinweißt), in dem Gedichte zu Ehren der Häfen am Lauf des Flusses gesammelt sind. Die im Film vorgelesenen Gedichte sind ein sorgsam ausgewähltes Stilmittel, das dem Film eine Bedeutungsebene verleiht, die vielleicht nur chinesische Zuschauer*innen voll ausschöpfen können. An jedem der beschriebenen Orte findet Gao eine junge Frau namens An Lu (安陆, gespielt von Xin Zhilei 辛芷蕾) vor, deren Erscheinung vage und flüchtig ist. Seine Sehnsucht und Suche nach ihr nimmt mit der Zeit absurde Züge an, sodass er zwanghaft die Orte der Gedichte ansteuert und mehr und mehr seine Besatzung gegen sich aufbringt.
Der Film ist episodisch gestaltet, wobei die einzelnen Teile je einem Reisetag, Anlegeort und Gedicht zugeordnet sind. Im Zentrum steht die persönliche Entwicklung Gaos während seiner Reise, während die Stimmung und graue Szenerie sich trotz der zurückgelegten Zeit und Entfernung nicht ändert. Dennoch schafft es Yang Chao die Spannung aufrechtzuerhalten und das Publikum in Gaos Geschichte miteinzubeziehen. Dabei enthält er sich aber einer endgültigen Aufklärung der Ereignisse und gibt damit Raum, das Gesehene als Metapher zu verstehen; eine Metapher für unsere eigenen Suchen nach Sinn und Hoffnung, für den Versuch unsere Vergangenheit zu verarbeiten oder sogar für die Geschichte Chinas. Der Film stärkt das Bewusstsein für unsere eigene Reise entlang vereinzelter Ankerstätten, die wir rückblickend wie mit Gedichten beschreiben und an denen wir hoffen, unser Glück zu finden.