Abwarten und Tee trinken

Eine chinesische Austauschstudentin berichtet für sinonerds über ihre Anfangszeit in Deutschland. Sie möchte gerne anonym bleiben, aber es ist ihr trotzdem wichtig ihre Erlebnisse mit anderen zu teilen. Ihre Geschichte zeigt wie schwer es ist, in einer anderen Kultur anzukommen. Und das es sich trotzdem lohnt.

Vor vier Jahren – als Austauschstudentin – war ich mit meinen chinesischen Kommilitonen in Essen. Irgendwo stiegen wir in einen Aufzug ein, um zu einem Bahngleis runter zu fahren. Aber plötzlich blieb der Aufzug stecken – genau zwischen der Straße oben und dem Bahnsteig unten – und niemand konnte uns sehen. Wir drückten den Notfallknopf und versuchten dem Mitarbeiter mit unserem gebrochenen Deutsch die Situation zu erklären. Leider verstand er uns nicht und legte einfach auf. Wir probierten es danach noch mal auf Englisch, aber anscheinend konnte er kein Englisch und so war die Leitung wieder tot. Da riefen wir mit schlechter Netzverbindung die Polizei an. Zehn Minuten später wurden wir endlich gerettet.

Am Abend desselben Tages wollten wir mit dem Bus zum Wohnheim zurück fahren. Doch etwa 20 Minuten nach dem Einsteigen fiel mir auf: Draußen sieht es irgendwie anders aus, es gibt fast keine Wohnungen mehr. Ich eilte zum Busfahrer und fragte ihn, ob wir denn im richtigen Bus sitzen. Er sagte, die Buslinie sei zwar richtig, aber leider sei die Richtung falsch. Mit dem letzten Bus fuhren wir dann doch noch zurück nach Hause. Das war mein erster Tag in Essen, beziehungsweise in Deutschland überhaupt.

Ein anderes Mal passierte etwas wirklich Unangenehmes. Wegen einer Zugverspätung kam ich erst mitten in der Nacht alleine in Berlin an. Es war im Winter, überall lag Schnee. Ich stapfte mit meinem Koffer über einen Platz zum Hostel. Es war sonst niemand unterwegs außer mir. Plötzlich sah ich einen alten Mann mit einer Flasche in der Hand. Scheinbar war er betrunken. Er kam auf mich zu. Als er dann bei mir war, fing er zu brüllen: “Geh doch in dein Land, Arschloch!” Ich konnte nichts machen außer ihn zu ignorieren und weiter geradeaus laufen. Das war mein erster Tag in Berlin. Aber manchmal ist das Leben spannend, da man nie sicher sein kann, was noch passieren wird!

20140226_Abwarten_1

Ich bin Berlin treu geblieben. Hier in meinem Kiez gibt es viele vietnamesische Spätis. Einmal bin ich zu so einem Laden gegangen, um etwas einzukaufen. Viele Menschen fragen mich immer gleich, woher ich komme und was ich in Deutschland mache. So auch der Besitzer. Das sind Standardfragen, ich bin schon daran gewöhnt. Aber am Ende gab es eine Überraschung: Als ich schon auf dem Weg nach draußen war, wollte er mir unbedingt ein Getränk schenken. Dazu sagte er: “Weil wir aus Asien kommen, und in Asien macht man das einfach so.“

Aber natürlich gibt es auch ohne diesen Zusammenhalt hilfsbereite Menschen: Ich war am Hauptbahnhof und wollte auf die Toilette gehen. Leider hatte ich keine 50 Cent dabei, um durch die Schranke zu kommen. Zum Glück kam ein älterer Herr zu mir und fragte gleich ob ich Hilfe bräuchte. Danach gab er mir einfach die 50 Cent. Ich sagte: “Dankeschön!” Mit einem Lächeln antwortete er: “Gern geschehen!” Damals wusste ich noch nicht, was “Gern geschehen” bedeutet. Seitdem kenne ich eine neue Antwort für “Dankeschön”.

20140226_Abwarten_2

Es gibt wirklich viele solche Momente, die mich berühren und auch immer wieder meinen Tag versüßen. Es sind ganz einfache Momente wie diese — Auf der Straße kam jemand einfach zu mir und sagte: “Du hast schöne Schuhe, stehen dir gut.” Und dann zog er weiter. Tag für Tag konnte ich mich in die Stadt Berlin verlieben, und so auch in Deutschland.

Als ich anfing Deutsch zu lernen, habe ich ein altes deutsches Sprichwort kennengelernt, und zwar: Abwarten und Tee trinken. Manchmal sollte man die Dinge nicht so schnell beurteilen, sondern ein bisschen geduldig sein und der Stadt, den Menschen oder sogar dem ganzen Land mehr Zeit geben. Abwarten, Tee trinken und mal schauen, was noch kommt.

Bilder: © Jana Brokate

Share.

Über den Autor

Die Autorin oder der Autor dieses Artikels möchte anonym bleiben. sinonerds setzt sich für das Teilen und den Austausch von persönlichen Erfahrungen ein, hält aber die Identität der Autor*innen in besonderen Fällen geheim. Bitte nimm Kontakt mit der Redaktion auf, wenn Du Fragen zur Anonymisierung hast.

Hinterlasse einen Kommentar

Benachrichtige mich zu:
avatar
1200
wpDiscuz