Der aus Mexiko stammende Austauschstudent Alvaro Sánchez Marín beschreibt für sinonerds wie er sich am Chinesischen Neujahrsfest in Guangzhou spontan eine chinesische Familie suchte.
Ich hatte nie damit gerechnet, zum Chinesischen Neujahrsfest in China zu sein, aber es war wohl Schicksal (und meine schlechte Reiseplanung), das mich dazu brachte, auf eine außergewöhnliche Art und Weise zu erleben, worum es beim Chinesischen Neujahrsfest geht. Fünf Tage vor Chinesisch Neujahr reiste ich noch fröhlich durch Thailand und Kambodscha, ganz der Reiseplanung meiner besten Freundin folgend, die – wie ich hinzufügen möchte – aus Deutschland kommt und sich daher aufs Planen versteht.
Vier Tage vor dem Chinesischen Neujahrsfest verließ meine planungssichere Freundin unsere kleine Reisegruppe, die ansonsten aus mir und einer weiteren Freundin, Debbie aus Panama, bestand, um das Chinesische Neujahrsfest bei Bekannten in Taiwan zu verbringen. Debbie und ich wollten derweil weiter nach Vietnam reisen und dann von Ho Chi Minh aus den Zug nach Hanoi nehmen, um während der Festtage in der vietnamesischen Hauptstadt zu chillen – fernab des in China an Neujahr herrschenden Trubels und Chaos. Das war der Plan. Leider verstehe ich mich mit meiner mexikanischen Herkunft nicht so gut aufs Planen, und sobald wir nur noch zu zweit waren, begann alles schief zu laufen. Als Debbie und ich in Ho Chi Minh ankamen, gingen wir zum Bahnhof, um unsere Zugtickets zu kaufen, und als ich am Ticketschalter fragte „Gibt es hier die Tickets nach Hanoi?“, fing die Frau hinter dem Schalter schallend an zu lachen. Sie lachte immer noch, als sie sagte: „Mein Kind, alle Zugtickets sind bereits seit zwei Monaten ausverkauft!“. Ich war schockiert. „Warum?“, fragte ich und sie antwortete: „Na wegen des Chinesischen Neujahrsfestes!“
Ich konnte nicht fassen, dass man in Vietnam auch Chinesisch Neujahr feierte. Es macht ja Sinn, denn die beiden Länder sind Nachbarn, aber ich hatte einfach nie realisiert, dass beide gemeinsame Traditionen teilen, und das „Chinesisch“ in CHINESISCHES Neujahrsfest hatte mich einfach glauben lassen, es handele sich um eine ausschließlich chinesische Tradition. Wir änderten also unsere Pläne, und mit viel Glück und ein wenig Hilfe bekamen wir noch Flugtickets zurück nach Guangzhou (wo wir gerade für ein Jahr studierten). Sieben Tage vor unserer ursprünglich geplanten Rückkehr. Wir kamen genau einen Tag vor dem Chinesischen Neujahrsfest in Guangzhou an. Der Campus der Sun Yat-sen Universität (中山大学 ) war wie ausgestorben, nur vereinzelt sah man einige Studenten und auch Ausländer. Auch die Stadt war leer, und die meisten Geschäfte waren geschlossen, weil zum Neujahrsfest alle Leute zu ihren Familien fahren – welche meistens in anderen Provinzen leben und oft auch auf dem Land. Es ist die größte jährliche Migration von Menschen weltweit. 1,3 Milliarden Menschen, die innerhalb weniger Tage versuchen, in ihren Heimatort zu kommen – total verrückt!
In der Nacht vor Chinesisch Neujahr sprach ich über Skype mit meiner Mutter und erzählte ihr von den Problemen, die wir auf unserer Reise in Vietnam gehabt hatten, dass ich mir nie Gedanken darüber gemacht hatte, ob Vietnamesen das Chinesische Neujahrsfest feiern oder nicht, und dass ich keine Ahnung hatte, was ich nun den nächsten Tag über tun sollte.
Sie sagte mir, dass ich auf jeden Fall einen Weg finden sollte, das Neujahrsfest zu feiern, denn sie hatte schon oft im Fernsehen gesehen, das es sich dabei um eines der größten Feste auf der Welt handelt. Ich erklärte ihr, dass die meisten meiner chinesischen Freunde nicht aus Guangzhou kamen und auf dem Weg in ihre Heimatorte waren, ich also nicht mit ihnen feiern konnte. Meine Mutter stellte daraufhin äußerst weise fest, dass ich mich auf die Probleme konzentrierte, anstelle darauf, Lösungen zu finden. Sie erinnerte mich daran, dass in Problemen immer Möglichkeiten versteckt lägen, und dass man nur den Mut finden müsse, nach ihnen zu suchen. Ich mache das Fernsehen und Paulo Coehlos Bücher für die Denkweise meiner Mutter verantwortlich, aber sie hatte Recht: Mein Problem war nicht nur ein Problem, sondern auch eine Chance.
Am Tag des Neujahrsfests wachte ich um 8:00 Uhr morgens auf und war voller Tatendrang, eine Lösung für mein Problem zu finden. Ich duschte mich schnell und zog mir das rote T-Shirt an, das ich immer an Tagen besonderer Events trug. Denn wie jeder weiß, ist Rot die Farbe des Glücks in China, und das war genau was ich heute brauchte: Glück!
Während ich aß, fing ich an, mir zu überlegen, was meine Idee jetzt eigentlich bedeutete und wie ich meinen Plan umsetzen sollte. Ich realisierte, dass McDonalds nicht der richtige Ort war, um eine geeignete Familie zu finden, die das Chinesische Neujahrsfest auf eine möglichst traditionelle Weise feierte. Also entschloss ich mich nach dem Essen dazu, zum Nord-Tor der Sun Yat-sen Universität zu laufen. Das Nord-Tor grenzt an den Perlfluss (珠江) und an eine große Promenade, die sich vor der Skyline Guangzhous erstreckt – ein beliebter Spot für Familien, um gemeinsam ihre Freizeit zu verbringen. Ich setzte mich also auf die Treppe vor dem Tor und beobachtete die Familien um mich herum mit dem Hintergedanken, mich für eine von ihnen zu entscheiden.
Zwei Stunden saß ich dort und beobachtete fremde Menschen, bis ich eine Großfamilie mit zwei kleinen Kindern sah, die mit ihren ebenso kleinen Fahrrädern herumtollten. Sofort hatte ich das Bedürfnis, sie anzusprechen, aber genauso schnell, wie dieses Bedürfnis gekommen war, verließ mich auch schon wieder der Mut. Dann sah ich einen Vater, der mit seiner kleinen Tochter spielte. Nach einer halben Stunde entschied der Mann, dass es Zeit sei, nach Hause zu gehen, und das war der Moment, als ich mich entschied, ihn zu fragen. Ich ging zu ihm hin und sagte zu ihm auf Chinesisch: „Hallo, mein Name ist Jie Lun. Ich bin ein Austauschstudent, der in Guangzhou lebt. Kann ich mit Ihrer Familie das Chinesische Neujahrsfest feiern?“
Weiter zu Seite 2 »