Ein Sandsturm zieht auf. Ich stehe gegen den Wind, die Augen zu Schlitzen verengt in der Hoffnung, dass kein Sand eintritt. Wüste kann erbarmungslos sein. Der Sandsturm nimmt an Fahrt auf. Ich trete die Flucht nach vorne ins naheliegende Museum an und schaue mir im geschützten Raum Landkarten des weitverzweigten Wegenetztes der historischen Seidenstraße an. Das Museum gehört zum Jiayu Pass 嘉峪关, dem letzten Fort entlang der Großen Mauer. Dieses liegt heute am Nordwestende der Provinz Gansu 甘肃. Einst markierte es die westliche Grenze des chinesischen Kaiserreichs und damit das Ende der Zivilisation.
Der Mythos Seidenstraße
Die Seidenstraße 丝绸之路 ist ein Geflecht aus Karawanenrouten, die von der Hauptstadt des chinesischen Kaiserreichs Chang’An 长安 (das heutige Xi’An 西安) bis nach Europa führten. Fasziniert vom Mythos Seidenstraße folge ich Ende Oktober 2013 gemeinsam mit meiner Mutter und unseren Rucksäcken den Spuren der Karawanen, Händler und Reisenden.
Die Reise führte mich in die erste Hauptstadt des chinesischen Kaiserreiches, heute Xi’An 西安, zu den zehntausend Buddhas nahe der Provinzhauptstadt Lanzhou 兰州, zum Außenposten der Zivilisation Jiayuguan bis in die Oasenstadt Dunhuang 敦煌. In zwei Wochen legten wir von Beijing bis Dunhuang 2900 km mit Bahn und Bus zurück und erkundeten so den chinesischen Abschnitt der historischen Seidenstraße. Während der Tang-Dynastie (618–907) erlebte dieser Landweg von Asien nach Europa seine Blütezeit – und mit ihm unsere erste Station Xi’An.
Xi’An – Startpunkt für eine Reise ins Unbekannte
Einst eine Weltmetropole übertraf Xi’Ans Größe während der Tang-Dynastie das damalige London und andere europäischer Großstädte bei Weitem. Waren aus aller Welt wurden hier gehandelt. 626 brach der Mönch Xuanzang 玄奘 von hier aus zu seiner berühmten Reise nach Westen durch benachbarte Königreiche bis nach Indien auf. Auf dieser Pilgerreise, die der Suche nach dem reinen Buddhismus dienen sollte, basiert eine der bekanntesten chinesischen Erzählungen „Die Reise nach dem Westen“ 西游记. Die Abenteuer des Mönchs und seiner fiktiven Begleiter – einem Affenkönig, einem Schwein, einem Sandgeist und dem weißen Drachenpferd – kennt in China jedes Kind aus dem Roman von Wu Ceng’En 吳承恩 und einer beliebten TV-Serie von CCTV.
Die buddhistischen Schriften, die der historische Mönch Xuanzang aus Indien mitbrachte, werden bis heute in der Großen Wildgans Pagode 大雁塔 in Xi’An aufbewahrt. Hauptattraktion für die vielen Touristen in Xi’An ist allerdings die Terrakottaarmee, die der erste chinesische Kaiser Qinshihuang秦始皇 zur Bewachung seines Grabs unweit der Stadt aufstellen ließ. Auch mich faszinieren die lebensgroßen Terrakottakrieger und ihre Pferde. Jeder von ihnen hat ein individuelles Gesicht, das früher kunstvoll bemalt war.
Dennoch ist Xi’ans Highlight für mich nicht die Armee aus Ton, sondern das muslimische Viertel der Stadt mit seinem lebhaften Markt und den zahlreichen Leckereien. Beim Bummel durch die engen Gassen spürt man bereits die Einflüsse ferner Kulturen aus dem Westen.
Neben den Hui, einer muslimischen Minderheit, die mit den Han-Chinesen eng verwandt ist, wohnen hier auch Uiguren, deren Wurzeln in Zentralasien liegen. Fladenbrote, Datteln und andere getrocknete Früchte erinnern mehr an den Orient und die Türkei als an chinesisches Essen. Im Herzen des Viertels liegt eine Moschee. Wären an den Tafeln über der Gebetshalle nicht arabische Schriftzüge angebracht, könnte man als Besucher meinen, man sei in einem buddhistischen Tempel gelandet. Die roten Säulen mit schwarzen Schriftzügen, die geschwungenen Dächer in rot und grün – alles wirkte sehr vertraut. Entlang der Seidenstraße wurden nicht nur Waren transportiert, auch Religionen und Kulturen vermischten sich.
In unwegsamem Gelände
Weiter geht es mit dem Zug von Xi’An nach Lanzhou, die Hauptstadt der Provinz Gansu. Von hier kommen die berühmten Lanzhou Lamian 兰州拉面 (mit der Hand lang gezogene Nudeln), die traditionell in einer Brühe mit Rindfleisch serviert werden. Natürlich möchte ich den Klassiker vor Ort probieren. Da wir am Abend ankommen, gestaltet sich die Suche nach den echten Lanzhou Lamian schwieriger als gedacht. Das Gericht wird in seiner Heimat meist nur tagsüber serviert. Ein Taxifahrer kann uns schließlich einen 24-Stunden Nudelshop nennen. Unsere lange Suche wird mit einem unvergesslichen Geschmackserlebnis belohnt.
Am nächsten Tag führt uns eine mehrstündige Bus- und Bootsfahrt zu unserem eigentlichen Ziel. Östlich von Lanzhou ist der Gelbe Fluss 黄河 zu einem See aufgestaut. An seinem Ende liegen versteckt und nur mit dem Boot erreichbar die 炳灵寺 Binglingsi: Die Tempel der zehntausend Buddhas. Nicht nur ein Schild am Eingang zu den Grotten erinnert hier an den Verlauf der Seidenstraße. Die Tempel – oder vielmehr die Grotten – wurden von den reisenden Händlern gestiftet. Angesichts des unwegsamen Geländes und der schroffen Berge ist es kaum vorstellbar, wie die Reisenden und ihre Karawanen einst den Weg hierher fanden. Eine weitere Überraschung erwartet mich in einem kleinen Tempel, der an einer steilen Felswand hängt. Nach mühsamer Kletterei über Steinstufen treffe ich an dem Schrein ein altes Ehepaar. Sie leben einen Großteil des Jahres hier und hüten den Tempel. Wie sie den beschwerlichen Weg meistern, bleibt mir ein Rätsel.
Außenposten der Zivilisation – damals wie heute?
Mit dem Nachtzug erreichen wir am nächsten Morgen Jiayuguan. Um die Mittagszeit zieht der Sandsturm auf. Im schützenden Museum wandern meine Gedanken zu den Soldaten, die hier in Jiayuguan 嘉峪关 ihren Dienst leisten mussten. Fernab der Heimat, am letzten Außenposten der Zivilisation, beschützten sie das Kaiserreich vor Eindringlingen und kontrollieren die Reisenden und Händler, die ihre Waren aus Europa und dem vorderen Orient im Reich der Mitte verkaufen oder tauschen wollten. Das Klima ist rau und trocken. Fels, Stein und Sand prägen die Wüstenlandschaft. Die Festung liegt mitten in einer kargen Ebene zwischen zwei Bergketten, die den Hexi-Korridor 河西走廊 eingrenzen. Der Hexi-Korridor, ein natürliches Nadelöhr, war aufgrund der geographischen Barrieren damals der einzige Zugang von Westen in das Kaiserreich. Alle Karawanen mussten ihn passieren.
Die heutige Stadt Jiayuguan 嘉峪关 wirkt wie ausgestorben. Ein Passant erzählt mir, dass viele Geschäfte bankrott gegangen sind. Die Menschen ziehen, wenn sie können, in die 730 km entfernte Provinzhauptstadt Lanzhou und andere größere Städte. Auch heute noch scheint Jiayuguan ein Außenposten der Zivilisation zu sein. Hoffnung bringen die riesigen Betonpfeiler, die frisch in die Ebene gepflanzt wurden. Hier entsteht eine neue High-Speed Zugtrasse, die den Westen Chinas mit dem Rest der Volksrepublik verbinden soll. Die Fahrzeit auf der Strecke Lanzhou-Urumqi (die Hauptstadt der autonomen Provinz Xinjiang 新疆) wird dadurch auf zwölf Stunden verkürzt. Zum Vergleich: Auf unserer Fahrt von Lanzhou nach Jiayuguan legten wir in neun Stunden gerade einmal ein Drittel dieser Strecke zurück.
Wüstenzauber
Ein ganz anderes Bild der Wüste zeigt sich rund um die Oasenstadt Dunhuang. Die fünfstündige Busfahrt von Jiayuguan nach Dunhuang führt durch endlose Stein- und Sandwüste. Ab und zu kommen uns mit Baumwolle beladene Traktoren entgegen, dann fährt der Bus zwanzig Minuten an einem modernen Windpark entlang. Am Ende der Fahrt tauchen schließlich wieder Straßenschilder auf, die Abzweigungen zu einem Flughafen und einem Bahnhof markieren.
Hier beginnt die Oase Dunhuang. Sie ist seit jeher ein Treffpunkt für Reisende aus der Ferne. Einst wurden hier Kamele getauscht, Wassertanks gefüllt und Waren gehandelt. Heute sind es der Zauber der Wüste, Chinas berühmteste buddhistische Grotten, die Mogao-Grotten, und das Geschäft mit Wind- und Solarenergie, die die Menschen an diesen abgelegenen Ort ziehen. Hier treffen wir auch die ersten anderen Ausländer, seitdem wir Xi’An verlassen haben. Obwohl die Touristensaison bereits vorbei ist und die meisten Geschäfte, Hotels und Restaurants bald eine Winterpause einlegen werden, wirkt die Stadt sehr lebendig und geschäftig.
Der Höhepunkt in Dunhuang ist ein Ausflug auf Kamelen in die Wüste Gobi. Der Ritt führt zu einem Lager in den Dünen. Kurz bevor die Sonne untergeht, klettere ich auf eine Düne, um von dort aus den Sonnenuntergang über der Wüste zu betrachten. Der Aufstieg ist anstrengend und trügerisch. Im tiefen Sand sinken meine Schuhe schnell ein, es geht steil nach oben. Auf dem höchsten Punkt angekommen sehe ich gerade noch die letzten Sonnenstrahlen über den Dünen aufblitzen. Der Himmel färbt sich lilarot und ein wunderbares Naturschauspiel beginnt. Kurze Zeit später verschwinden die warmen Farbtöne. Das fahle Blau des Himmels färbt die Dünen braungrau. Es wird merklich kühler und ich rutsche die Dünen hinab zum warmen Lagerfeuer. Ohne die künstlichen Lichter der Zivilisation zeigt sich der Sternenhimmel in voller Pracht. Wüste kann verzaubern! So geht mein letzter Tag auf den Spuren der Seidenstraße zu Ende. Am nächsten Morgen fliege ich zurück in die Zivilisation und das heutige Zentrum Chinas – Beijing.
Dich hat schon das Reisefieber gepackt? Verständlich. Vielleicht interessieren dich auch die Erfahrungen anderer Chinareisender. Felix berichtet beispielsweise für sinonerds von seinen spannenden Erfahrungen im tiefen Westen Chinas, in Xinjiang. Über ihre Erlebnisse im südlichsten Eck der Volksrepublik, dem südlichen Yunnan, berichtet Sinonerd Charlotte, die sich mit ihren Freunden in eine Gegend aufmachte in der Orangen wachsen und frittierte Bienen als Spezialität gelten.