Es ist nicht gerade leicht, aktuelle Sci-Fi-Literatur aus China in deutscher Sprache in die Hände zu bekommen. Ein neues Magazin aus Berlin will das ändern, und veröffentlicht fantastische chinesische Kurzgeschichten erstmals in deutscher Übersetzung. Karo hat sich das Kapsel-Magazin für sinonerds angeschaut.
Ich bin gespannt, als ich den Umschlag öffne – ein Magazin, dass sich nur mit Science-Fiction-Literatur aus China beschäftigt? Als die Redaktion des Kapsel-Magazins im Mai in Berlin den Launch ihres Werks feierte, konnte ich leider nicht dabei sein. Doch meine Neugier war geweckt, und so wartete ich noch ein paar Wochen, bis das Magazin im regulären Handel erhältlich war. Vor Jahren einmal verschlang ich einen Science-Fiction-Schinken nach dem anderen, doch irgendwann kamen viele sogenannte wichtige Dinge dazwischen und meine Leidenschaft schlief etwas ein. Nun hat das Genre mich wieder.
Schon auf den ersten Blick weiß ich – es wird mir gefallen. Auf dem kräftigen Papier findet sich als Coverbild eine bunte Graphik, deren geometrische Linien an Bienenwaben erinnern. Der Name der Autorin, Chi Hui (迟卉) sowie der Titel ihrer hier erstmals in deutscher Sprache veröffentlichten Kurzgeschichte, „Das Insektennest“ (虫巢), erscheinen sowohl auf Deutsch als auch auf Chinesisch auf dem Cover – meine Hoffnung auf zweisprachiges Lesematerial bestätigt sich.
Beim sorgfältigeren Durchblättern wird mir schließlich bewusst, dass ich etwas Besonderes in den Händen halte. Der ungewöhnliche Textsatz und das Layout komplementieren die spezielle Thematik; gleichzeitig ist das Ganze äußerst sorgfältig und liebevoll durchkomponiert.
Der Fruehwerk-Verlag, bei dem das Heft erschienen ist, ist ein unabhängiges Netzwerk zur Unterstützung „außergewöhnlicher Kunstprojekte“, und so ist die Kapsel auch kein Hochglanzmagazin, sondern eher ein Nischenprodukt für Enthusiast*innen. Dieser Enthusiasmus stellte sich bei mir auf den ersten Blick ein.
Im Zentrum der Ausgabe steht die genannte Kurzgeschichte. Rundherum und zwischen den einzelnen Kapiteln arrangiert sind Illustrationen verschiedener Künstler*innen und Graphiker*innen, ein Interview mit Chi Hui, ein Artikel zur Geschichte der Sci-Fi-Literatur in China, Leserbriefe, sowie ein eigens zusammengestellter, vom „Insektennest“ inspirierter Soundtrack.
Letzterer begleitet also auch meine Leseerfahrung. Die zu Beginn verträumt-spacigen und später manchmal düsteren Ambient-Klänge geben mir selbst das Gefühl, durch den leeren Raum zu schweben und aus Astronaut*innen-Perspektive Welten wie die von Chi Hui’s Protagonist*innen an mir vorbeiziehen zu sehen.
Jene finden sich in einem düsteren Zukunftsszenario wieder. Das Volk der Tanla auf dem Planeten Tantatula gerät in Konflikt mit den expansiven Plänen der Menschheit, auf ihrem Planeten einen intergalaktischen Verkehrsknotenpunkt zu etablieren. Ihre aus Sicht der Menschen geheimnisvolle, kaum verstandene symbiotische Lebensweise mit den auf Tantatula lebenden Pflanzen und riesigen Insekten wird durch diese voranschreitende Umformung des Planeten bedroht. Als schließlich der Sohn eines hochrangigen Beamten der Menschen in den Tiefen eines riesigen Insektennests verschwindet, spitzt die Lage sich zu und die kosmischen Dimensionen des Konflikts werden offenbart.
Kann man die Geschichte als ein Gleichnis für den Umgang der chinesischen Regierung mit den ethnischen Minderheiten lesen, wie in einem Leserbrief vorgeschlagen? Kann man, bestimmt. Aber das ist nur ein möglicher Denkansatz. In der Story geht es auch um den Umgang mit machtvoller Technologie und der Zerstörung, die diese mit sich bringen kann. Und dieses Thema findet sich überall dort, wo Science-Fiction geschrieben wird. Auch Explorationen der Beziehungen zwischen Mensch, Natur und Technik sind so alt wie das Genre selbst. Warum sollte also eine chinesische Autorin nicht über Themen schreiben, die die Menschheit an sich betreffen? Das Faszinierende an Sci-Fi ist ja gerade, dass es in fantastischen Settings eigentlich um die großen Fragen geht, um die Zukunft, um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Miteinanders.
Insgesamt wirkt die Geschichte ein wenig wie ein Rohdiamant. Das Ende ist ominös und offen, viele Fragen ungeklärt, die Geheimnisse kaum gelüftet, die Charaktere kaum verstanden. Doch das tut der Lesefreude nicht unbedingt Abbruch. Die Story ist eher im positiven Sinne ein Fragment, das die Neugierde auf mehr weckt: mehr aus diesem ungewöhnlichen Universum, mehr von Chi Hui, mehr Sci-Fi aus China.
Die Kapsel ist eine sorgfältig zusammengestellte Plattform für diese eine Geschichte, welche einen kleinen, aber wunderbar ausgeleuchteten Einblick in die Welt der kontemporären chinesischen Science-Fiction bietet. Derzeit international gefeierte Autor*innen wie Liu Cixin (刘慈欣) oder Hao Jingfang (郝景芳) sind nur die Spitze des Eisbergs.
Dieser Einblick bekommt im Interview mit Chi Hui einen noch intimeren Charakter. Sie erzählt aus ihrem persönlichen Leben wie auch aus dem Leben einer ganzen Generation, von der Sci-Fi-Szene in ihrer Wahlheimat Chengdu, vom Schreiben und von ihren eigenen Gedanken zum „Insektennest“. Gegenpol zu dieser Nahaufnahme ist der literaturgeschichtliche Artikel der Sinologin Frederike Schneider-Vielsäcker, welcher durch die Geschichte der chinesischen Science-Fiction begleitet. Beide Beiträge lassen mich mit einer ganzen Liste von Autor*innen und Titeln zurück, von denen ich nur hoffen kann, dass einige von ihnen ihren Weg in das nächste Kapsel-Magazin finden.
Denn auch im Hinblick auf die Zugänglichkeit ist die Kapsel besonders – sie will Geschichten veröffentlichen, die nie zuvor auf Deutsch erschienen sind. Zum Glück finden sich also im Heft die chinesische Version und ihre deutsche Übersetzung direkt nebeneinander, denn ich merke, dass ich trotz einigermaßen fortgeschrittenem Chinesisch-Niveau große Schwierigkeiten habe, die Geschichte in der Originalsprache zu verstehen.
Ich stolpere über Wortungetüme wie das „Integrierte Wurmloch-Ringstraßensystem“ (集成式虫洞环路) oder quäle mich durch mehrere Absätze, bis mir klar wird, dass 太阳 hier nicht „Sonne“ oder „Sonnenlicht“ bedeutet, sondern die Bezeichnung der Tanla für die Menschen ist. Trotzdem bin ich dankbar für die Gelegenheit, meine Lesefertigkeiten zu trainieren. Noch mehr Pluspunkte gibt es dafür, dass das Interview mit Chi Hui, welches in seiner Alltagssprache viel leichter zu verstehen ist, ebenfalls zweisprachig abgedruckt wurde.
Somit ist das Kapsel-Magazin sowohl für Sci-Fi-Fans, als auch für generell Literatur- und natürlich China-Interessierte eine Empfehlung wert. Das gelungene Gesamtkunstwerk aus Literatur, Information, Musik und Illustration habe ich in den letzten Wochen häufig in die Hand genommen. Nun bleibt nur noch zu hoffen, dass der Kapsel genug Erfolg beschert wird, um ihr Vorhaben, „ein Gespräch über Zukunft, China und Literatur zu beginnen“, wie es in ihrer Selbstbeschreibung so schön heißt, auch weiterhin umzusetzen zu können. Denn das Projekt lebt momentan noch stark vom Engagement Einzelner, wie mir Herausgeber Lukas Dubro erzählt. Es wird sich zeigen müssen, wie oft wir mit einer neuen Ausgabe rechnen können. Geplant ist die Nächste für das Frühjahr 2018, und laut Lukas dürfen wir uns entsprechend der Tendenz in der aktuellen chinesischen Sci-Fi-Szene weiterhin auf Texte von chinesischen Frauen freuen. Ich jedenfalls warte nun gespannt auf die Kapsel, Volume 2.
Falls nun euer Interesse geweckt ist, könnt ihr das 77-seitige Heft für 10 Euro im Berliner Kunsthaus ACUD MACHT NEU (Veteranenstraße 21, 10119 Berlin) erhalten, in dem auch die Launch-Party stattfand. Online bestellen könnt ihr es auf www.kapsel-magazin.de oder bei den gängigen Buchhandlungen (ISBN: 3941295160).
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Titelbild credit: “Dragon Near Africa” by Fragile Oasis shared under a Creative Commons (BY-NC-SA) license.