Die Punkrock-Doku Beijing Bubbles ist ein Zeitzeugnis der besonderen Art. Der 2005 gedrehte Film wurde inzwischen auf mehr als 40 internationalen Filmfestivals gezeigt, lief 2007 im Museum of Modern Art in New York und anschließend in den deutschen und österreichischen Kinos. In der deutschen Öffentlichkeit sorgte Beijing Bubbles (temporär?) für eine Auseinandersetzung mit gängigen China-Klischees und gilt heute als filmischer Klassiker zum Thema chinesische Subkulturen.
Der oft mit versteckter Kamera gedrehte Film hat das Leben der beiden Regisseure George Lindt und Susanne Messmer grundlegend verändert und prägt es bis heute. In diesem ausführlichen Interview nimmt uns George Lindt mit auf eine Reise zu den Anfängen des Films, erzählt von den Widrigkeiten seiner chinesischen Punkrock-Tour durch Europa und gibt uns einen Einblick in seine ganz persönliche Geschichte, bei der die finanzielle Sicherheit der Selbstverwirklichung im Kulturaustausch weichen musste.
sinonerds: Hallo George! Wie bist Du auf die Idee gekommen, einen Film über chinesische Rockbands zu drehen?
George Lindt: Angefangen hat alles damit, dass ich beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen gearbeitet und viele Sachen zum Thema Musik gemacht habe. Die vielen Interviews mit deutschen und europäischen Bands fand ich allerdings ziemlich eindimensional. Irgendwie hat man immer nur an der Oberfläche gekratzt. Zum einen hat das sicher mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen und dessen starken Fokus auf Aktualität zu tun… und zum anderen: Nenn’ mir eine deutsche Band, die sagt: „Komm, wir gehen jetzt mal zu meinen Eltern was essen“, so wie bei Beijing Bubbles! So eine Nähe findet normalerweise nicht statt.
Eines Tages kam dann eine Freundin, die zu der Zeit Chinesisch studierte, an, und überredete mich und weitere Freunde dazu, gemeinsam Urlaub in China zu machen. Man muss ja nicht immer nach Italien oder Frankreich, meinte sie. Also haben wir einen Flug gebucht und dann, selbstorganisiert, eine Rundreise durch das Land gemacht. Dabei habe ich das erste Mal chinesische Rockbands auf der Bühne erlebt – und die haben mich einfach umgehauen!
Was war denn das Besondere an diesen Bands?
Da waren Bands, die hatten so eine Energie, so eine Aufbruchsstimmung! Das kann man vielleicht mit London im Jahr 1977 vergleichen. Man hat einfach gespürt, dass zu dieser Zeit in Peking und in anderen chinesischen Städten etwas Großes in Bewegung war. Dabei gab es in Peking eigentlich nur zwei Clubs für Rockmusik in der ganzen Stadt, zwischen denen man immer hin- und her gependelt ist. Das kann man sich heute in Peking ja gar nicht mehr so richtig vorstellen. In diesen zwei Clubs haben auch immer die gleichen Bands gespielt. An dem einen Tag in dem einen Club und am nächsten Tag in dem anderen… und auch das Publikum war fast immer identisch. Als wären es Treffen im eigenen Wohnzimmer, bei denen Freunde zusammenkommen und gemeinsam Musik machen. Das fand ich schon irre. Und die ganze Zeit war da irgendwie das Gefühl, dass in der Szene gerade richtig was passiert. Nachdem ich später noch einmal da war und Susanne ein Stipendium bekam, entschieden wir einfach: Ok, wir drehen da jetzt was und gucken was passiert. Das diese Idee letzten Endes so wegweisende Dimensionen für unser Leben haben würde, das konnten wir zu dem Zeitpunkt nicht absehen.
Was war Eure Hauptmotivation für den Film?
Wir wollten den Menschen mal ein anderes China zeigen, nicht nur das, was wir täglich in den Medien zu sehen bekommen. Wir wollten zeigen, dass es in China auch Menschen gibt, die anders denken, als der Mainstream.
Beruflich wart Ihr fest in der deutschen Medienlandschaft etabliert. Trotzdem habt Ihr den Film quasi im Alleingang produziert…
Zeitweise waren bestimmte Fernsehsender daran interessiert, diesen Film zu realisieren. Die wollten dann aber, das wir gleich am Anfang die Soldaten von Tian’anmen 1989 hineinschneiden und einen Kommentar drauflegen. Das wollten wir aber überhaupt nicht. Ich wollte einen Film machen, der sich gegen die Normen des öffentlich-rechtlichen Journalismus stellt. Wir haben alle Beteiligten auf Englisch interviewt und dann noch einmal auf Chinesisch, um den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich in ihrer eigenen Sprache auszudrücken. Wir haben bewusst auf einen Kommentar verzichtet, denn wir wollten kein Korrektiv liefern und den Leuten vorschreiben, in welche Richtung sie zu denken haben. Wir wollen eine Abbildung der Rockszene. Es ist aber auch keine Musikdokumentation, als welche der Film oft missverstanden wird, sondern wir wollen das reale Leben der vorgestellten Bandmitglieder darstellen. Die Musik war eigentlich gar nicht so wichtig. Wir wollen die Musiker zeigen, wie sie sich treffen. Wir wollen ihre Eltern zeigen und typische Familiensituationen, wie zum Beispiel das gemeinsame Essengehen.
„Beijing Bubbles“ ist nach seiner Veröffentlichung eingeschlagen wie eine Bombe. Hat Euch dieser Erfolg überrascht?
Total. An den ersten Festivals hatten noch wir aus reinem Spaß teilgenommen. Dann wurden wir plötzlich zum Dokumentarfilmfestival in Kassel eingeladen. Dort waren beide Vorstellungen von uns komplett ausverkauft und die Leute standen Schlange, um doch noch Tickets zu bekommen. Mit stolzer Brust fuhren wir mit dem ICE zurück nach Berlin, in der tiefen Überzeugung, gerade den Zenit unseres Filmes erlebt zu haben. Dann kamen wir zu Hause an und hatten plötzlich Einladungen aus der ganzen Welt.
Auch das New Yorker Museum of Modern Art (MoMa) hat Euch eingeladen…
Genau. Das war für uns wie ein Ritterschlag, da waren wir völlig aus dem Häuschen. Unser Auftritt im MoMa war dann auch legendär… zumindest was die Zusammensetzung des Publikums anging: Da traf das klassische, etepetete MoMa-Publikum auf Alt-Punks und Exil-Chinesen. Dementsprechend grotesk verlief auch das Q&A. Die Chinesen erschienen besonders verwirrt darüber, was in ihrem Land so abgeht. Das Phänomen beobachte ich auch hier in Deutschland, wenn Mitarbeiter von der chinesischen Botschaft zu uns kommen, um sich über chinesische Subkulturen zu informieren. Man merkt eben, dass Chinesen, die ins Ausland gehen, meist aus einer bestimmten sozialen Schicht kommen.
Nach unserem Auftritt im MoMa entwickelte sich eine große Eigendynamik, bei der unser Film von Festival zu Festival weitergereicht wurde. Wir haben da selbst gar nichts mehr gemacht. Der Presserummel in Deutschland tat sein übriges und schon hatten wir Angebote von Filmverleihen, die den Film ins Kino bringen wollten… das hatten wir ursprünglich ja nie vor. Als wir den Film gedreht hatten, wollten wir eine einzelne DVD machen und mehr nicht. Das Ganze nahm jedenfalls Dimensionen an, dass man gar nicht mehr normal arbeiten gehen konnte. Plötzlich waren wir für die deutschen Medien DIE Ansprechpartner zum Thema Subkultur in China. Was ziemlich merkwürdig ist, denn obwohl wir uns mit dem Thema inzwischen gut auskennen, würden wir uns nicht als „Fachleute“ bezeichnen – ein Titel, der einem im Fernsehen immer so gerne verliehen wird.
Der Film kam dann tatsächlich in die Kinos. Aber Werbung habt Ihr kaum gemacht, oder?
Nicht im traditionellen Sinne. Normalerweise schaltet man ja irgendwelche Anzeigen im Stadtanzeiger. Ich habe aber an meine eigenen Kinogewohnheiten gedacht und daran, wie selten ich solche Anzeigen lese. Deshalb habe ich zu Susanne gesagt: „Lass uns auf derartige Werbung verzichten und stattdessen zum Filmstart eine der Bands einladen und ein paar Konzerte spielen.“ Aus diesen paar Konzerten wurde dann eine zweieinhalbmonatige Tour durch ganz Europa, die uns bis an den Rand des Wahnsinns getrieben hat.
…an den Rand des Wahnsinns?
Nun ja, eine Gruppe chinesischer Punks in der eigenen Wohnung zu haben, mag anfangs ganz lustig sein, wird aber auch irgendwann enorm anstrengend. Der gewaltige Presserummel, der selbst die Tagesschau mit einschloss, konfrontierte uns mit Phänomenen, die einem sonst fremd sind. Als wir die Band einflogen, standen kleine und große Medien Schlange, um mit den Musikern Interviews zu führen. Die Bandmitglieder waren am Anfang noch ziemlich verängstigt, vor allem weil wir ihnen auch noch immer Dinge gesagt haben wie „ZDF, das ist wie CCTV bei Euch“ und „die Zeitung X ist so bedeutend wie die Zeitung Y in China.“ Das hat die Band anfangs stark überfordert. Außerdem waren sie sehr überrascht, dass ihr Auftreten so ein Riesending sein sollte.
Und dann die Frauen. Ich habe zum ersten Mal echte Groupies erlebt, die ich bis dato nur mit großen Bands wie den Rolling Stones in Verbindung gebracht hatte. Aber dass bei unseren Konzerten dauernd irgendwelche Frauen waren, die die Musiker abschleppen wollten, das war schon echt erstaunlich. Auch nicht immer witzig, wenn du morgens in deiner eigenen Wohnung aufwachst und Schühchen von fremden Frauen in der Diele stehen.
Nicht immer einfach war die Tatsache, dass wir für die Band finanziell verantwortlich waren. Natürlich wollten wir keine „Gutsherrenmentalität“ und trotzdem mussten wir das mit dem Geld irgendwie regeln. Die Band bekam dann einen Geldbetrag, mit dem sie den Monat über auskommen sollten. Nach drei Tagen war das gesamte Geld weg… der eine hatte sich eine Lederjacke gekauft, der andere wollte eine Gitarre. Das Fazit der Band: „Dann essen wir halt nur Döner.“ Da standen wir natürlich blöd da… man kann doch nicht vier Wochen Döner essen, das geht nicht.
Neben alledem stand die Band unter dem Dauerstress, die ganze Zeit Konzerte zu geben. Die meisten waren ja auch vorher gar nicht geplant, sondern kamen zustande, als wir mit dem Tourbus unterwegs waren. Nebenbei lief nämlich der Film in den Kinos, die Medien veröffentlichten die ersten Artikel und Fernsehberichte, und jede Menge Veranstalter riefen uns spontan an und fragten, ob wir nicht auch bei diesem und jenem Festival spielen könnten.
Klingt anstrengend, aber auch nach Erfolg.
Auf jeden Fall. Neben dem Erfolg war es auch gemeinsames Freundschaftserlebnis. Manchmal war unsere Tour sogar fast so etwas wie eine Klassenfahrt.
Wie hat Beijing Bubbles Dein Leben verändert?
Seit dem Film und der Tournee werde ich permanent mit irgendwelchen China-Projekten angesprochen. Manchmal werde ich um Mitrealisierung gebeten, manchmal um eine Beratung, manchmal werde ich als Moderator zu irgendwelchen Panels eingeladen. Was glamourös klingt, hatte zur Folge, dass Susanne und ich unsere normalen Jobs verloren haben. Bei Einladungen wie der des Museum of Modern Art denkst du dir eben, Mensch, dass will ich auch noch erleben, da muss ich mir freinehmen. Karrieremäßig war das sicher eine Fehlentscheidung, ideell dagegen definitiv das Richtige. Irgendwann haben wir dann für alle unsere Projekte einen Namen gebraucht, damit es nicht immer nur „George Lindt und Susanne Messner“ heißt. Herausgekommen ist unser Label „Fly Fast“.
Was wollt Ihr mit Fly Fast erreichen?
Von Anfang an wollten wir nicht nur Filme veröffentlichen, sondern auch Bücher und Musik – alles im Namen des Kulturaustauschs. Eines unserer Projekte ist zum Beispiel die BuchCD „Poptastic Conversation China“. Dafür singen deutsche Bands, wie Die Ärzte und Wir sind Helden, auf Chinesisch und chinesische Bands auf Deutsch. Alle Texte sind auf Deutsch und Chinesisch abgedruckt und dem Ganzen liegt eine zweite CD bei, die einen Chinesisch-Sprachkurs enthält. Dieses Projekt ist für mich persönlich ein ganz besonderer Erfolg, denn wir haben gemerkt, dass die Leute nicht nur etwas gekauft haben, um es zu konsumieren… nein, bei ihnen hat auch etwas stattgefunden. Ich glaube, mit dieser Produktion haben wir tatsächlich einen echten Kulturaustausch hervorgerufen, der auch Leute erreicht hat, die sonst eigentlich überhaupt nichts mit China zu tun haben. Wer sich beispielsweise einen Film über chinesischen Punkrock anguckt, interessiert sich zumindest diffus schon für China, aber der normale Ärzte- oder Wir sind Helden-Fan, der sich die Platte nur wegen seiner Lieblingsband holt und dann dadurch auf die chinesische Sprache aufmerksam wird, sich die Texte durchliest und dann noch eine Mail schreibt und erzählt, er hätte die ersten Kapitel des Sprachkurses gelernt… das ist dann das, was mich stolz macht. Geld verdienen ist natürlich auch irgendwie wichtig, aber in Grunde genommen geht es doch darum, wie man etwas bewegen kann.
Beijing Bubbles (2007):
Psst! Das Kapitel Beijing Bubbles ist übrigens auch im Jahr 2014 noch nicht komplett abgeschlossen. George Lindt und Susanne Messmer sind nach China geflogen um zu sehen, was inzwischen aus den Protagonisten des Films geworden ist. Das Material soll für eine Neufassung des Films verwendet werden, die 2015 veröffentlicht wird. George Lindt dazu: „In der neuen Version soll auch der Quantensprung thematisiert werden, d.h. die Frage Was sind zehn Jahre in China vs. zehn Jahre in Deutschland?“ – Wir sinonerds finden das spannend und warten neugierig auf das Ergebnis.