Das Beijinger LGBT*-Zentrum zu finden ist gar nicht so einfach. Nahe der Metrostation Liufang liegt es im 20. Stock eines Wohnblocks. Erst als sich eine Tür am Ende des Ganges öffnet und Xiao Tie 小铁 mir entgegen winkt, weiß ich, dass ich hier richtig bin. Drinnen gibt es keinen Zweifel mehr: Die Vorhänge sind in den Farben des Regenbogens, regenbogenfarbene Armbänder und Schlüsselanhänger sind gleich am Eingang zu erwerben und überall liegen Broschüren über LGBT* (Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender) aus. Hier können sich Interessierte treffen, lesen oder einfach im Internet surfen. Zahlreiche Veranstaltungen bringen die Community zusammen. Die 30-Jährige Xiao Tie ist seit 2012 verantwortlich für das Zentrum. Offen und freundlich erzählt sie mir von der Arbeit des Zentrums, der aktuellen Situation von LGBT* in China und ihrem persönlichen Coming-out.
sinonerds: Xiao Tie, kannst du uns beschreiben, wie es mit dem LGBT*-Zentrum anfing?
Xiao Tie: Unser Zentrum wurde 2008 von fünf LGBT*-Organisationen gegründet. Damals gab es kaum LGBT*-freundliche Orte in Beijing. Zusammen sollte ein offener und vielfältig nutzbarer Raum gegründet werden, wo Menschen sich sicher fühlen, treffen und vielleicht gemeinsam einen Wandel bewirken können.
Was ist euer Angebot?
Das Zentrum bietet kulturelle Aktivitäten und Bildungsprogramme an und unterstützen aktiv die Interessen der LGBT*-Gemeinschaft. Zum Beispiel gibt ein Programm in mehreren chinesischen Städten für die Sensibilisierung angehender Psycholog*innen im Umgang mit homosexuellen Patient*innen. In Firmen wie Google, IBM, Bayer oder dem chinesischen Handy-Produzenten Meizu bieten wir ein Training zu Gender Diversity an. Wir stehen auch in Verbindung zur American Psychological Association und Pink Therapy, einem psychosozialen Zentrum für LGBT* in Großbritannien.
Wichtig ist uns auch die Lobbyarbeit. Zwar wurde Homosexualität in China 2001 von der Liste der Geisteskrankheiten genommen, aber es gibt immer noch die sogenannte Reparativtherapie, die eine Heilung der Homosexualität erwirken soll, denn einige Menschen glauben weiterhin, dass Homosexualität eine Krankheit ist. So engagieren wir uns dafür, dass die Klassifizierung mentaler Krankheiten (中国精神疾病分类方案与诊断标准) geändert wird und möchten damit auch ein Umdenken bei den Menschen erwirken.
2017 haben wir uns dann in der Rechtsberatung stärker aufgestellt. Früher war nur ich zuständig für die Hilfesuchenden, heute haben wir ein ganzes Team für die Beratung. Diese Rechtshilfe wollen wir auch anderen zugänglich machen, wie etwa durch Trainingsangebote für Anwälte, damit sie die Situation von LGBT* in China besser verstehen.
2014 konnte eine vom LGBT*-Zentrum geleitete Initiative einen Fall gegen die Reparativtherapie vor Gericht gewinnen. Ein homosexueller Mann hatte eine Klinik verklagt, wo ihm Elektroschocks verpasst wurden, um seine sexuelle Orientierung zu ändern. Die Richter ordneten an, dass die Klinik dem Mann einen Schadensersatz von 3400 RMB zahlen und die Internetsuchmaschine Baidu die Werbung der Klinik für Reparativtherapie einstellen mussten.
Wer kommt zu euch ins Zentrum?
Täglich kommen etwa ein Dutzend Leute. Manche suchen einfach Kontakt, andere bitten um Hilfe oder suchen einen sicheren Aufenthaltsort und wieder andere bieten sich als freiwillige Helfer*innen an. Die meisten sind 18 bis 40 Jahre alt. Derzeit bauen wir unsere Sozialarbeit aus, damit wir vor Ort Angebote für verschiedene Gruppen anbieten können. Insgesamt haben wir mehr als 100 Freiwillige, die regelmäßig mitarbeiten.
Wie klappt es mit eurer Finanzierung?
Wir nehmen Geld durch Fundraising und andere Aktivitäten ein, aber es ist schwer. Wir erhalten eher Zuwendungen von Menschen mit wenig Geld, wie Student*innen, denn sie sind sich eher der Zivilrechte bewusst und sehen sich als aktive Bürger*innen. In China fehlt eine soziale Bildung, die meisten denken nur an die eigene Karriere und glauben nicht an Wandel. Ein Kollege erzählte mir, dass er einen reichen, schwulen Freund hat, doch der will von Aktivismus nichts wissen.
Kannst du etwas über das Coming-out von LGBT* in China sagen?
In Großstädten fällt das Coming-out leichter, aber auf dem Land hat man es schwer. Die Situation ist allgemein ganz gut in China, Homosexualität ist nicht illegal, aber heiraten können wir nicht. In China ist es einfacher, sich gegenüber seinen Freunden und Kollegen zu outen als gegenüber der Familie. Es gibt so viele traditionelle Erwartungen. Die meisten LGBT* heiraten so spät wie möglich oder gar nicht, aber diejenigen, die verheiratet sind, sind zu 80% mit einem heterosexuellen Menschen verheiratet, etwa 12% gehen eine Scheinehe mit einem homosexuellen Partner des anderen Geschlechts ein und nur etwa 2% nutzen die Möglichkeit einer Homoehe im Ausland. Ich denke, dass der soziale Status auch eine wichtige Rolle spielt. Wer gut verdient, gebildet und unabhängig ist, hat es leichter mit dem Coming-out.
Wie schätzt du die Lage für LGBT* in China insgesamt ein?
In Großstädten können viele LGBT* unbehelligt leben, aber aus politischer Sicht ist es kompliziert. Manchmal hat die Regierung eine eher negative Haltung gegenüber den Rechten von LGBT*, andere Male zeigt sie sich unterstützend. Viele Jahre lang durften keine Filme über Homosexualität gezeigt werden, letztes Jahr gab es dann Filme mit homosexuellen Inhalten und dieses Jahr hat die staatliche Verwaltung für Radio, Film und Fernsehen plötzlich angewiesen, dass auf Internetplattformen keine Videos zu LGBT*-Themen hochgeladen werden dürfen. Wir konnten kein Gesetz hierzu finden, aber bei der bekannten Video-Plattform Le-TV war eine Liste einzusehen, was sie alles nicht veröffentlichen und darunter fielen auch homosexuelle Inhalte.
Kann die Zivilgesellschaft dagegen etwas machen?
Als wir zu einem Boykott aufgerufen haben, wurde die Vorschrift geändert. Wir dachten natürlich an eine grundsätzliche Änderung, aber dann schränkte die sehr populäre Video-Plattform Bilibili die Suche nach homosexuellen Inhalten stark ein, man fand also keine Videos mehr zum Thema. Dafür berichtet CCTV nun gelegentlich über Homosexualität. Eine Freundin von mir, die dort arbeitet, hat mich sogar zu einem Interview eingeladen. Es ist wirklich schwer zu wissen, welche Haltung die Regierung gegenüber Homosexualität gerade einnimmt. Aber immerhin wird in den Medien darüber berichtet, auch weil viele LGBT* in dem Bereich arbeiten. Hier spielt die Globalisierung eine wichtige Rolle. Mehrere Länder haben die gleichberechtigte Ehe eingeführt und die Menschen sind allgemein offener. Wirklich positiv ist, dass LGBT* in China nicht aufgrund eines bestimmten religiösen Glaubens diskriminiert werden.
Die chinesische Gesellschaft ist also recht offen gegenüber dieser Thematik?
Es kommt auf die Region und die Generation an. Bildung ist sehr wichtig. Letzten Monat war ich an der Beijing Normal University zu Besuch und sie hatten ein Kursbuch, das auch LGBT* thematisiert hat. An der gleichen Uni gibt es eine Gruppe aus der Sozialarbeit, die in einem Peer-Mentoring-Programm ein Buch für Schüler entwickelt hat, in dem LGBT* als Thema angesprochen wird. Viele junge Menschen kennen LGBT* durch die Auseinandersetzung mit Subkulturen und über Informationen internationaler Webseiten. Früher waren vor allem homosexuelle Männer in den Medien sichtbar, heutzutage treten Frauen mehr in den Vordergrund. In der Zusammenarbeit mit den Medien versuchen wir auch Transsexualität Raum zu geben. Ich denke, dass weltweit größtenteils weiße, homosexuelle Männer im Rampenlicht stehen. Deshalb bin ich für Frauenpower!
Kommen viele LGBT* vom Land in die Städte?
Für Menschen auf dem Land ist es schwierig, an Informationen zu LGBT* zu kommen und ihre eigene Identität zu leben. Ich bin in Shangyang in der Provinz Hubei aufgewachsen. Mit 15 habe ich gemerkt, dass ich irgendwie anders bin als die anderen, aber ich verstand nicht, warum. Ich wusste nichts über LGBT*. In der lokalen Bibliothek gab es immer noch Bücher, in denen stand, dass Homosexualität eine Geisteskrankheit sei. Ich hatte schon von Homosexualität gehört, es aber immer als etwas Schlechtes angesehen. Heutzutage ist das anders, die meisten unserer Freiwilligen sind nach 1990 geboren und sagen, dass sie schon in der Grundschule Homosexualität einigermaßen einordnen konnten. 2014 gab es eine Umfrage, die gezeigt hat, dass mehr als 80% der Post-90er Homosexualität akzeptieren.
Wie war das bei dir persönlich?
Als ich klein war, war ich sehr jungenhaft. Meine Familie war patriarchalisch eingestellt und meine Großeltern hätten lieber einen Enkelsohn gehabt. Ich war also stets unzufrieden mit meinem Gender und merkte zudem, dass ich nicht heterosexuell war. Ich habe mich manchmal wie ein Monster gefühlt. Später las ich Bücher über Gender Studies und Feminismus und als ich an die Universität in Wuhan ging, um Public Administration zu studieren, habe ich ein Buch über Homosexualität von der Soziologin und Sexualwissenschaftlerin Li Yinhe gelesen, das hat mir die Augen geöffnet. Ich realisierte, dass ich bisexuell bin.
Ich entschloss mich, für gemeinnützige Organisationen und die Gesellschaft zu arbeiten. Mein damaliger Freund war Anarchist. Wir waren sehr engagiert und ich studierte mit Mitstudentinnen das Stück “The Vagina Monologues” von Eve Ensler ein. Ich wurde immer aktiver in der Frauenbewegung. 2010 habe ich mit Freund*innen die erste LGBT*-Gruppe in Wuhan gegründet. Bei einer Reise nach Beijing lernte ich Mitarbeiter*innen vom LGBT*-Zentrum kennen, die mich fragten, ob ich dort arbeiten möchte. Hier bin ich nun seit fünf Jahren und liebe das Team hier!
Hast du dich deinen Eltern gegenüber geoutet?
Meine Mutter weiß Bescheid. Ich habe es ihr erzählt, als ich die LGBT*-Gruppe in Wuhan gründete. Sie versteht es nicht, weiß aber, dass ich schon als Jugendliche stark und unabhängig war. Ich habe immer gemacht, was ich wollte. In meinem ersten Jahr in Peking hat sie mich gefragt: “Was machst du da in Beijing? Machst du queeren Porno? Sind die Menschen um dich herum geisteskrank?” Jetzt akzeptiert sie mein Leben und guckt sogar online, was wir so machen.
Was sind die größten Herausforderungen für die chinesische LGBT*-Bewegung?
Unsere Regierung versucht die Zivilgesellschaft zu kontrollieren, zum Beispiel mit dem 2017 in Kraft getretenen Gesetz zur Regulierung der Aktivitäten von ausländischen NGOs. Das betrifft auch uns, es ist schwerer geworden Aktivitäten zu organisieren. Der Freiraum schrumpft.
Die Graswurzelbewegung ist in China sehr aktiv, doch aufgrund der Zensur erreichen wir nur wenige. Zumindest hören Menschen von Aktionen wie dem Gerichtsverfahren gegen die Reparativtherapie. Doch es gibt immer noch Lücken im System, die ausgenutzt werden. Während des Frühlingsfests 2017 habe ich einen Anruf von einer jungen Frau bekommen, die erzählte, dass ihr Vater sie und ihre Mutter schlägt. Ich fragte sie, ob ihr Vater vom Gesetz gegen häusliche Gewalt weiß. Sie sagte, dass er es kennt und daher ihre Mutter und sie nur in dem Ausmaß misshandelt, dass das Recht noch nicht greift. Wir müssen aber nicht nur die Gesetze, sondern das Denken der Menschen ändern.
Arbeitet ihr auch in ländlichen Gebieten?
Das gestaltet sich meist als schwierig. Schon Mao versuchte das ländliche China in den Fokus zu rücken, denn auf dem Land leben so viele Menschen. Unsere Strategie ist, dass wir mit Organisationen von Arbeitsmigranten zusammenarbeiten. Livestreaming im Internet ist in China sehr beliebt, daher überlege ich auf diesem Weg an die Menschen heranzutreten.
Wie sieht es für transsexuelle Menschen in China aus?
Transsexuelle können in China eine geschlechtsangleichende Operation erhalten und ihre ID-Karte ändern lassen. Allerdings muss zuerst die Operation in vollem Umfang durchgeführt worden sein, um die Änderung anzumelden. Viele Transsexuelle sind psychisch sehr belastet, da sie unter starken Vorurteilen und Diskriminierungen leiden. Sie wissen nicht, wie sie mit anderen Menschen kommunizieren sollen und fühlen sich verloren. Viele brechen ihre Ausbildung ab und finden keinen Job. Im öffentlichen Raum spielen sie keine Rolle, es gibt keine Unisex-Toiletten.
Und Transsexuelle erleben häufig häusliche Gewalt. Wenn Homosexuelle sich outen, akzeptiert die Familie es häufig oder es wird nicht darüber geredet, aber Transsexuelle werden oft von ihren Eltern verstoßen. Und es gibt wenige Orte, wo sie hingehen können. Auch wir haben keinen Raum, um sie unterzubringen. Zudem gibt es kaum Vorbilder. Sogar die bekannte Tänzerin Jing Xing steht nicht für Transsexuelle ein: sie sagt, dass sie eine Frau ist und ist dabei sogar recht patriarchalisch. Sie ist keine Feministin. Aber ich kann sie auch verstehen, denn sie will einfach als Frau behandelt werden und nicht als Transsexuelle.
Was wünschst du dir für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass alle Chinesen, egal welche Sexualität, Gender-Identität oder welchen Gender-Ausdruck sie haben, die gleichen Rechte in allen Lebensbereichen genießen können.
sinonerds bedankt sich bei Xiao Tie für das ausführliche und spannende Gespräch und wünscht dem LGBT*-Zentrum viel Erfolg für die Zukunft!
Alle Fotos © Malina Becker