Der Dokumentarfilm Wu Tu 吾土 (My Land) von Nachwuchsregisseur Fan Jian 范俭 lief auf der diesjährigen Berlinale in der Sektion Panorama Dokumente. Lin war gespannt auf den Film, weil die Kurzbeschreibung einen kritischen, politischen Perspektivwechsel auf das rasante städtische Wachstum in der Volksrepublik versprach, und verlässt das Kino genauso begeistert wie bewegt.
“The bigger the city, the faster the growth,” tönt es aus den Boxen des tragbaren Radios, das zwischen den einfachen Hütten am äußersten Rand eines Beijinger Vororts steht. Die hier lebenden Menschen sind, wie so viele andere, vom Land gekommen, um in der Stadt ihr Glück zu suchen. Sie haben ihre Häuser in den zentraleren Provinzen Chinas mitsamt ihrem Hab und Gut verkauft, nur das Nötigste haben die meisten mitgenommen. Nun leben sie hier und bauen Gemüse an, das sie auf dem lokalen Markt verkaufen. Hinter ihnen türmen sich die Wohnblöcke eines neu gebauten Compounds für die rasant wachsende urbane Mittelschicht auf, vor ihnen liegt braches Ackerland im diesigen Nebel.
Growing (up) between bulldozers
Chen Jun ist einer von ihnen. Vor über zehn Jahren ist er aus seiner Heimatprovinz Henan nach Beijing gezogen und lebt nun mit seinen Eltern, seiner Frau und seiner kleinen Tochter Niu Niu in der Stadtrandsiedlung. Neben dem Gemüseanbau betreibt Jun eine Sorgenhotline für die Städter, bis seine eigene größte Sorge schließlich der Erhalt seiner Lebensgrundlage, seines Stück Landes, wird. Die Gemeinde, vor deren Mauern Juns einfache Siedlung liegt, will weitere Wolkenkratzer für den ständig wachsenden Wohnungshunger der neuen urbanen Mittelschicht bauen, die Häuser und Beete der Gemüsebauern sollen dafür weichen. Der Rest der Siedlung beugt sich in diesem ungleichen Kampf dem Willen des Stärkeren – nur die Familie Chen bleibt.
Es folgen Szenen der Wut, des Leids und des Widerstands. Die Familie kämpft sich behelfsmäßig durch die Jahreszeiten, teils ohne Strom und fließendes Wasser. Die Tochter Niu Niu spielt zwischen Baggern und Bauschutt. Als der Rest der Siedlung von anderen Wanderarbeitern abgerissen wird, spricht Jun in die Kamera: “Look at them. They work so hard to build the city, but they don’t know where they belong”.
Was am Ende des Films bleibt, sind in vielerlei Hinsicht eindrucksvolle Bilder: Familie Chen stapft im Winter mit Plastiktüten über den Schuhen über das trostlose Feld. Chen Jun klebt zum chinesischen Neujahrsfest ein rotes Banner mit der Aufschrift „Gerechtigkeit wird siegen“ über seine Haustür. Die Großmutter weint im Kerzenlicht. Und direkt neben einem Haufen Schutt – in einer Umgebung, die so lebensfeindlich erscheint – wächst ein neuer Garten, in dem die Familie im Sommer Gurken ernten kann.
Noch stärker als die Bilder beeindruckt jedoch Familie Chen in ihrem unermüdlichen Kampf um Gerechtigkeit und Anerkennung. Zudem überzeugt die Kombination aus Bildmaterial des Kamerateams und selbst gedrehten Szenen der Familie. Gemeinsam mit seinen Protagonisten hat Fan Jian in Wu Tu ein gegenwärtiges China eingefangen, das den Rechten derer, die täglich für das enorme Wachstum der Volksrepublik arbeiten, weder Raum noch Sichtbarkeit zugesteht. Der Film behandelt Fragen von urban citizenship und Landrecht, die sich (wenn auch in anderem Ausmaß) auch in der hiesigen Debatte um Verdrängung und ein Recht auf Stadt wiederfinden. Kurzum: Eine durchweg sehenswerte und bewegende Dokumentation über Widerstand, menschliche Stärke und Durchhaltevermögen, die als Einzelfall bewegt und gleichzeitig auf Millionen andere Schicksale aufmerksam macht.