Weder ein echter Krimi noch seichter Coming-of-Age Film: Zwar lief der Beitrag von Wang Yichun in der Kategorie Generation, aber die Tiefe der Geschichte spricht ein breites Publikum an. Ein echter Geheimtipp, um den gesellschaftlichen Wandel der ‘90er Jahre kennenzulernen.
Die 15-jährige Qu Jing wächst in den frühen ‘90er Jahren in einer Kleinstadt in Henan auf und will erwachsen werden. Mit diesem Plot im Vordergrund verwebt “What’s in the Darkness?” zwei sehr unterschiedliche Geschichten. Meist begleite ich die symphatische, nachdenkliche Qu Jing während sie sich zum ersten Mal einen Fingernagel lackiert, die Haare locken lässt oder mal schüchtern, mal trotzig ihre Weiblichkeit entdeckt. Die entstehenden Konflikte mit der älteren Generation sorgen für Lacher im Kinosaal, zum Beispiel als ihr Vater schimpft, sie sähe aus als hätte sie jemandem die Augen ausgekratzt. Ich amüsiere mich gut, als ihr im Tante-Emma-Laden verweigert wird, einen BH zu kaufen.
Während Qu Jings Leben immer mehr ausgerollt wird, erschüttert eine Mordserie ihre Heimatstadt. Jings Vater ist als Polizist an der Suche nach dem Täter beteiligt, der im Laufe der Geschichte mindestens drei Frauen vergewaltigt und ermordet. Wir wechseln nun häufig in die Perspektive des Polizisten, doch statt einer klassischen Detektivgeschichte treten die persönlichen Spannungen innerhalb der Polizeieinheit und ihre fragwürdigen Ermittlungsmethoden in den Vordergrund. Zwischen schlampiger Arbeit und erzwungenen Geständnissen macht sich der Vater mit seiner Universitätsausbildung und unangenehmen Fragen unbeliebt, und so richtig trägt auch er nicht zur Lösung des Falls bei.
Von Gerechtigkeit zu Sexualität
Mehr als die Suche nach Gerechtigkeit ist Sexualität das große Thema, welches sich kontinuierlich durch die Erzählung zieht und die beiden Handlungsstränge verbindet. Die neugierig-schüchterne Entwicklung von Qu Jing steht dabei in Kontrast zur Sorge ihrer Eltern und einem Umfeld, welches sie zunehmend sexualisiert. Gleichzeitig fallen Frauen einer wahl- und gesichtslosen sexuellen Gewalt zum Opfer. Ein perverser Rentner, ein aufdringlicher Frisör oder ein Eisverkäufer, der den Beinen seiner jungen Kundinnen nachgafft – die meisten Situationen empfinde ich nicht unmittelbar als bedrohlich. Dennoch frage ich mich bei jedem auffälligen Verhalten, könnte dieser Mann der Täter sein? Ist das noch normal und wenn ja, sollte es das sein? Und in den Worten von Qu Jing, wer bestimmt eigentlich, dass Frauen im Damensitz auf dem Gepäckträger sitzen müssen?
Qu Jings Vater gibt die typische, aber unbefriedigende Antwort: “Das ist einfach so. Ich entscheide das.” Damit berührt der Film auch in der modernen Gesellschaft einen wunden Punkt. Die schwache Sexualerziehung in der Schule wie in der Familie ist ein Risiko, das immer wieder diskutiert wird. Scheinbar kann es trotzdem nicht mit traditionellen Werten in Einklang gebracht werden. Jungfräulichkeit vor der Ehe, frühe Heirat und das Zusammenwohnen mit den Eltern des Mannes stehen auch in China für viele junge Frauen zunehmend im Konflikt mit den eigenen Erwartungen. Und der Respekt vor den Eltern erschwert auf der anderen Seite den Dialog auf Augenhöhe.
…und was wartet im Dunkeln?
Im Interview nach der Vorstellung fällt die Frage, ob der Film auch eine feministische Botschaft hat. Zumindest nicht geplant, meint die Regisseurin, vielmehr soll die Geschichte alle Geschlechter und Generationen zum Nachdenken anregen. Deshalb bleibt Wang Yichun ihrem Publikum auch eine Antwort auf die Frage im Titel bewusst schuldig: Die Menschen wollen einen Täter schnappen und einsperren, doch die Probleme einer Gesellschaft lassen sich nicht so einfach lösen. Viel eher ist die Frage selbst die Antwort, nämlich die eigene Wahrnehmung zu hinterfragen und nicht locker zu lassen, ganz in der Art von Qu Jing und ihres Vaters.
Trotz dieser ernsten Themen ist “What’s in the Darkness?” vor allem eine lockere, manchmal spannende Genre-Mischung mit einer Menge lustiger Momente. Von den bissigen Kommentaren von Jings Eltern bis zum lustlosen Vorlesen ihrer Mitschüler werden zahlreiche Situationen geschaffen, in denen sich Menschen verschiedenster Kulturen wiederfinden dürften. Gleichzeitig blickt Wang Yichun, die sowohl das Skript geschrieben als auch Regie geführt hat, auf ihre eigene Jugend in Henan zurück und zeigt in konzentrierter Form das normale Leben in China und den Alltag der ‘90er Jahre. Für Chinesen als Ausflug in die Kindheit, für Deutsche als Kulturreise und für uns sinonerds als Tauchgang zu Werten und Konflikten ist “What’s in the Darkness?” ein absolut sehenswerter Film.