Seit Ende Juli läuft „Art’s home is my Kassel“ in den deutschen Kinos, ein Dokumentarfilm über die letzte Documenta von 2012, der alle fünf Jahre stattfindenden internationalen Kunstausstellung. Wie der sperrige Titel andeutet, ist es ein Film zweier Kasseler Schwestern über die Vorbereitung, Durchführung und das Ende des so genannten „Museums der 100 Tage“ in ihrer Heimatstadt.
Eingangs wird – fast vorhersehbar – Ai Weiweis Name in einem Interview fallen gelassen. Der Künstler wäre gerne bei der Documenta anwesend gewesen, hatte aber bekanntlich Ausreiseverbot. Eine Anspielung auf die nicht vorhandene Freiheit für Kunst und Kultur in China, die leider immer noch ein aktuelles Thema ist. Die Kasseler konnten sich als Begleiter durch die Documenta bewerben, um den Besuchern eine individuelle, persönliche Tour anzubieten. Eine davon ist Rui Jin, eine junge Chinesin, die in Freiburg aufgewachsen ist und Kunst studiert. Durch ihre Präsenz ist sie neben Künstlern und Besuchern eine der tragenden Säulen im Film.
Der Klassiker: China und die Todesstrafe
Natürlich ergibt es sich, dass sie eine chinesische Gruppe durch die Documenta leitet, zumal sie die einzige Führung anbietet, die auch in Mandarin verfügbar ist. An einem Kunstwerk von Sam Durant, das diverse Hinrichtungsgalgen aus den Vereinigten Staaten zu einer Art Balkon zusammenkonstruiert hat, entzündet sich – wie sicherlich erwünscht – die Debatte über die Todesstrafe. Es läuft wie eine Schul-Diskussion ab, die so manchen vertraut vorkommen dürfte:
Person A hinterfragt die Todesstrafe an sich: dürfen Menschen über anderer Menschen Leben entscheiden? Und Person B wagt die Hypothese, bei der alle Menschenrechtsorganisationen aufschreien würden, dass es weniger Kriminalität und Gewalt gäbe, wenn die Bestrafungen härter ausfällen würden – sprich: es bedürfe eigentlich mehr Todesstrafen. Jede Diskussion über dieses Thema in einer Stammkneipe könnte wahrscheinlich so anfangen. Pro und Kontra Todesstrafe. So weit, so gut. Spannend wäre daher der weitere Verlauf und vor allem das letzte Wort, was man aber an dieser Stelle leider nicht mehr mitbekommt.
Was hinterlässt diese angedeutete Diskussion beim Zuschauer? Welche Assoziationen ist man geneigt zu knüpfen in puncto „die Chinesen und ihr Verhältnis zur Todesstrafe“, oder „die Chinesen und die universellen Menschenrechte”?
Die Tatsache, dass die Kunst es ihnen wert ist, nach Kassel zu reisen, das von der Größe her einem verschlafenen chinesischen Dorf entspricht und sonst – wenn wir wir ehrlich sind – nicht viel Aufregendes für den internationalen Tourismus hergibt, fällt dann schnell unter den Tisch. Was bleibt, ist der Eindruck, dass China eben jenes rückschrittliches Land ist, in denen humanistische Ideale und Menschenrechte keinen Wert haben und so weiter.
Ob es überhaupt so stimmt, dass man in China keine humanistischen Werte teilt und was für unterschiedliche ideengeschichtliche Entwicklungen dort stattfanden, die das Denken bis heute prägen und von Europa unterscheiden, oder der Gedanke, dass nicht jedes Land auf der Welt die Entwicklungseinbahnstraße der Aufklärung einschlagen muss, das sind natürlich Fragen, die nicht weiter verfolgt werden. Entscheidend ist dieser kurze Eindruck, der das eigene diffuse Halb-Wissen über die „Zivilisiertheit der Chinesen“ erweitert oder schlimmstenfalls bestätigt.
Turbo-Kapitalismus und -tourismus
Es geht weiter mit einem Mann, der als eine Art selbsternannter komödiantischer Kritiker der Zeit den ganzen Wirbel um die Documenta in Frage stellt, während er selber aber bestens auf der Aufmerksamkeitswelle der Veranstaltung schwimmt. Vor einer Demonstration der Occupy-Bewegung an den Toren des Friedricianum, dem Hauptgebäude der Documenta, lässt er sich in der Uniform eines UNO-Blauhelmsoldaten in Szene setzen.
Dann diese Szene: Ein chinesischer Tourist, gekleidet in einem hellblauen Mao-Anzug, ist begeistert, einen zweiten Kostümierten gefunden zu haben und möchte ein Foto mit ihm machen. Während der Satiriker sich bemüht, seinen kritischen Kommentar für die Kamera fortzusetzen, zerrt ihn der Tourist zu sich vor das iPhone. Der UN-Soldat und der Maoist vor den Occupy-Zelten in Kassel. Wie um das Bild eines globalen Nostalgiekonsumenten zu komplettieren, trägt der Chinese auch noch eine Lomo-Kamera um den Hals, die aber nicht zum Einsatz kommt. Dafür reicht auch das Fotobearbeitungsprogramm auf dem iPhone.
Die Macht der Aufklärung
Die Fortführung dieses China-Strangs findet ihr Ende in einem abschließenden Fazit von Rui Jin. Vielleicht hat sie ein paar Jahre in China gelebt, bevor sie nach Deutschland kam, man erfährt es im Film nicht. Jedenfalls scheint sie aber „die Chinesen“ gut genug zu kennen, um sich zu dem Urteil hinreißen zu lassen, dass sie immer weniger kompatibler sei mit den Menschen in China, je länger sie hier sei. Das Denken und die Wertevorstellungen seien sehr verschieden und sie verändere sich immer mehr in ihrer deutschen Lebenswelt.
Hat sie der Geist der Aufklärung mit seinen abendländischen humanistischen Werten ergriffen? Ist die Verschiebung ihrer Weltwahrnehmung der deutschen Umgebung oder viel eher ihrem Kunststudium und dem Umgang mit Gleichgesinnten geschuldet, die sicherlich nicht als Maßstab für Otto-Normal-Verbraucher herhalten können? Es wäre sicherlich interessant zu erfahren, in welchem Kontext die Aussage fiel, und auf welche vorhergehende Frage sie geantwortet hat. Die Zusammensetzung im Schnitt lässt jedenfalls einen sehr eindeutigen Erzählstrang zu.
Eine Botschaft, die der Film also zu vermitteln versucht, war die aufklärerische, befreiende – weil zum Nachdenken anregende und Veränderung anstoßende – Kraft der Kunst in Form der Documenta. Allerdings stellt sich hier die Frage, wer der Empfänger dieses Appells ist.
Kunst für wen?
Umfragen während der Documenta 2002 besagten, dass nur 7% der Besucher aus Kassel kamen und gut ein Drittel aus dem Ausland angereist waren. Und genau dieser Eindruck entstand nach dem Film: Die lokale Bevölkerung fand kaum Zugang zur Kunst während der Documenta und sah es vor allem als Magnet für den auswärtigen Tourismus.
Weder gelingt es dem Film, eine Debatte über die Aufgabe der Kunst zu entfachen, noch spannende Geschichten zu erzählen. Es ist enttäuschend, dass trotz des Filmgegenstands – eine internationale Kunstmesse, auch mit chinesischen Beiträgen, in der alle den Geist der Gleichheit atmen sollten – trotzdem ein gewisser Überlegenheitsglaube greifbar ist, der anscheinend dazu berechtigt, ein Urteil über andere zu fällen. Der Film gerät unter den Generalverdacht, eine Selbstbeweihräucherung der abendländischen Ideale von Freiheit, Demokratie, Menschenrechte etc. zu sein. Dies kann man noch deutlicher herausstellen im Vergleich zu Ländern, die diesbezüglich noch viel aufzuholen hätten. Schade ist, dass im Film nicht auf die chinesischen Documenta-Beiträge eingegangen wird, um Vertreter von vermeintlich chinesischen Sichtweisen zu Worte kommen zu lassen. Denn ja, es gibt chinesische Kunst jenseits von Ai Weiwei.
Vermittlung statt Schwarz-Weiß-Malereien
Vor allem ist es bedauerlich, dass die eigentliche Aufgabe der Kunst nicht in die Tat umgesetzt wird: Einen Dialog zwischen Menschen zu entfachen und unterschiedliche Ansichten aufeinanderprallen zu lassen, damit man danach einander besser versteht. Und wenn man nicht im Einverständnis auseinandergeht, dann doch mindestens mit Respekt und Verständnis für die Meinung des Anderen. Das findet hier leider nicht statt. Anstelle von neuem Wissen, der Förderung von Toleranz und Verständnis von anderen, um somit die Ursachen der menschlichen Zwietracht auf der Welt etwas zu mindern, gießt der Film eher Öl ins Feuer, indem er einstimmt in die einseitig negative Berichterstattung über China als ein Land, dessen Gesellschaft, Kultur und Politik in allen Punkten diametral der „unsrigen“ gegenüber steht, und das es zu verurteilen gilt. Vor allem diese Arroganz, in dem Glauben es „besser zu wissen“ als andere, ist fatal – der unkritische Glaube an die eigene Überlegenheit ist nie gerechtfertigt und hat sich in der Geschichte als desaströs erwiesen, wenn sich solche Überzeugungen in kollektiven Handlungen manifestiert haben. Ein Dokumentarfilm darf und soll kritisch sein, aber in diesem wäre eine beidseitige Beleuchtung der chinesischen Medaille schön und fair gewesen.
Abgesehen davon ist die berechtigte Kritik an der Unterdrückung der Meinungsfreiheit nichts Neues, aber es gibt beispielsweise die schon länger andauernde Entwicklung einer digitalen Zivilgesellschaft, der sogenannten „Netizen“ 网民, die online hitzige Debatten über aktuelle Geschehnisse führt, die gerne übersehen wird. Nun, die chinesische Zivilgesellschaft ist auch nicht das Hauptthema von „Art’s home is my Kassel“, was vielleicht noch bedenklicher ist angesichts der China-Konnotationen, die nebenbei fallen gelassen und letztendlich beim Zuschauer hängen bleiben werden, im Einklang mit dem verallgemeinernden, eher schwarzen Bild von der Volksrepublik. Dabei wäre es gerade in Zeiten der Globalisierung angebrachter, mehr Verständnis und Wissen über andere zu fördern, was angesichts der zunehmenden Vernetzung und der damit einhergehenden Abhängigkeit auch immer notwendiger wird, um ein friedliches Zusammenleben zu garantieren.
Titelbild: Die Rechte am Bild liegen bei Gebrüder Beetz Filmproduktion.