Die chinesische Küche hat mich, wie so viele andere, schon längst in ihren Bann gezogen. Doch rund fünf Jahre nach meinem ersten Aufenthalt in China habe ich kürzlich Bilanz gezogen und festgestellt: Chinesisch essen will gelernt sein: Von Ente Kross zu Granatapfelblüte in vier Phasen.
Als ich letztes Jahr angefangen habe, in China zu arbeiten, bin ich nach Feierabend regelmäßig mit meinem Kollegen Abing in Shanghais scheinbar endloser Restaurant-Landschaft auf kulinarische Entdeckungsreise gegangen. Doch so sehr uns beide die Unterhaltungen mit einem neuen Freund aus einer so nahen und doch so fernen Welt fasziniert haben – beim Essen hörte das Verständnis häufig auf. Jedes mal, wenn ich etwas Vielversprechendes auf der Speisekarte entdeckte, reagiertet Abing auf meinen Vorschlag mit einer Mischung aus Entsetzen und Verzweiflung, als hätte ich aus einer frisch geborgenen Schatztruhe eine tote Muschel herausgefischt. Und mittlerweile verstehe ich weshalb.
Aller Anfang ist kross
Als Ausländer, der sich daran macht, die chinesische Küche zu entdecken, durchläuft man mehrere Phasen. In der ersten findet man Ente kross, Bambussprossen und Chinapfanne gut, vielleicht sogar “mit scharf”. Nur die Stäbchen sind ein bisschen unbequem.
Wer nach China kommt, dem eröffnet sich dann eine neue Welt. Ich liebe gedämpfte Brötchen! Handgemachte Nudeln sind ja viel besser! Gebratene Tomaten mit Eiern sollte es zu jeder Mahlzeit geben! Und alles so günstig! So oder so ähnlich erlebt man Phase zwei. Ein bisschen so wie meine Oma, als sie nach dem Fall der Sowjetunion das erste mal bei Penny einkaufen war.
Schon nach kurzer Zeit hat jeder Laowai dann eine Liste von Lieblingsgerichten. Interessanterweise beinhaltet diese neben den erwähnten Eiertomaten auffällig oft gebratenen Eierreis, gegrillte Fleischspieße und etwa zwölf geschmacklich praktisch identische, süß-sauere Gerichte. Diese „Normalisierung“ ist Phase drei. Um bei dem Vergleich mit meiner Oma zu bleiben: Sie fand den Bierschinken für 99 Pfennig gut.
Die Legende vom Wenchang Chicken
Eine meiner allerersten Erfahrungen in China verdeutlicht das Dilemma ziemlich gut. 2006 endete ich, durch eine dieser für China typischen Aneinanderreihungen absurd unterhaltsamer Situationen, als Ehrengast auf einer Dorfhochzeit in Hainan. Seit Wochen machte man mich heiß auf einen Geheimtipp der Hainan-Küche, ein legendäres Gericht namens Wenchang Chicken. Es sei das edle Lieblingsgericht der Hainanesen und an diesem Tag sollte es endlich so weit sein.
An prominentester Stelle stand dann, neben in Sojasauce gedünsteten Muscheln, in Reiswein ertränkten Krabben, Tigergarnelen mit Chili und einem Overload an weiteren Gemüse, Meeresfrucht- und Fischgerichten, ein leidenschaftlich rot-weiß dekorierter Teller mit herrlich dampfendem Wenchang Chicken. Was sich schon beim ersten Biss als gekochtes Hähnchen herausstellte. Einfach nur gekochtes Hähnchen. Schamlos wie ich war, switchte ich nach zwei Happen zum extravaganten Drumherum. Doch hätten mich nicht die Shrimp-Bällchen in ihren Bann gezogen, hätte ich auf dem Gesicht der Gastgeber den mitleidigen Blick entdecken können, den mir Abing viele Jahre später geben würde.
Die Erklärung ist natürlich simpel: Auf einer Insel wie Hainan gibt es Meeresfrüchte, wie Sand an deren Stränden. Der Nahrungsanalphabet mit der langen Nase hat sich für den Bierschinken von Penny entschieden. Doch irgendwo haben sie ja recht – denn so gut es auch schmeckt, wer ein Croissant in Paris gegessen hat, kennt noch lange nicht die französische Küche. Wer sich dann auch noch als Liebhaber dieser bezeichnet, tätowiert sich seine Flachheit praktisch auf die Stirn.
Der Weg ist das Ziel
Es bedarf daher an Experimentierfreude, gewisser Erfahrung und auch des Mutes, um sich von Phase drei zu verabschieden. Denn Phase vier ist sozusagen das Nirwana der chinesischen Esskultur, man wendet sich mit dem Verständnis für ihre Grundlagen endlich ihrer spannendsten und aufregendsten Seite zu: dem gemeinsamen Entdecken der unendlichen Weiten der chinesischen Küche.
Wenn ich jetzt mit Abing oder anderen chinesischen Freunden essen gehe, bestelle ich nicht mehr, was man jederorts beim Supermarkt um die Ecke bekommen kann. Diese kleine nostalgische Mahlzeit gönne ich mir eher mit ausländischen Freunden oder auch mal alleine. Ich höre mehr auf die Locals, gehe Risiken ein und lasse mich gerne mal überraschen. Meistens geht das gut – ich hätte beispielsweise nicht gedacht, dass Granatapfelblüten so gut schmecken (oder dass es Granatapfelblüten gibt). Manchmal geht es dann auch wieder schief, wenn ich zum Beispiel an das Schweinehirn von letzter Woche denke. Spaß und gemeinsame Erinnerungen bringt diese Gewohnheit aber jedes mal aufs neue.