Etwas unscheinbar versteckt in der Stipendien-Datenbank des DAAD findet sich das Programm „Sprache und Praxis in China“. Dabei ist es zusammen mit seinem 13 Jahre älteren Schwester-Programm in Japan für den DAAD etwas ganz Besonderes: Graduierte verschiedener Fachrichtungen erhalten die Möglichkeit 16 Monate in China zu leben. Dabei verbringen die Stipendiaten die ersten 10 Monate damit, an der Beijing Foreign Studies University (北京外国语大学) Chinesisch zu lernen. Anschließend absolvieren sie ein sechsmonatiges Praktikum bei einem Unternehmen in China. Aktuell läuft die Bewerbungsphase für das Programm 2017/2018.
Jost, derzeit Stipendiat im “S&P”, sprach für sinonerds mit Ruth Schimanowski, selbst ehemalige Programm-Teilnehmerin und jetzt stellvertretende Leiterin der DAAD-Außenstelle in Peking und Koordinatorin des Programms.
sinonerds: Frau Schimanowski, in der Stipendien-Datenbank des DAAD finden sich derzeit für China insgesamt 32 verschiedene Stipendien. Was ist das Besondere am Programm „Sprache und Praxis in China“?
Ruth Schimanowski: Das Besondere an „Sprache und Praxis in China“ ist zunächst, dass sich das Programm im Gegensatz zu den meisten anderen DAAD-Stipendienprogrammen an Graduierte wendet, die keine wissenschaftliche Karriere anstreben. Damit bildet es eine besondere Brücke zwischen akademischer Ausbildung und beruflicher Praxis. Vom Programmaufbau her sind vor allem das sorgfältige Chinesischlernen, die Vielfalt persönlicher China-Erfahrungen sowie das enge und belastbare Alumni-Netzwerk die Merkmale von „Sprache und Praxis in China“.
Vielleicht können Sie diese Punkte kurz einzeln erläutern. Das Erlernen der chinesischen Sprache ist integraler Bestandteil des Programms. Das heißt, die Teilnehmer verfügen bei Beginn des Programms nicht über Sprachkenntnisse?
Das ist sehr unterschiedlich. Es ist zumindest keine Bewerbungsvoraussetzung. Das Programm richtet sich an Graduierte der Natur-, Ingenieur-, Rechts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften sowie der Architektur. Das heißt, die Teilnehmer sind grundsätzlich erstmal Experten auf einem anderen Gebiet als der chinesischen Sprache oder Kultur. Einige Teilnehmer haben zu Beginn gar keine Chinesisch-Kenntnisse, andere haben bereits an der Uni oder privat Chinesisch gelernt und können sich dann durch das Stipendium substantiell verbessern. Für uns ist wichtig, dass sich alle Bewerber bereits ernsthaft mit China beschäftigt haben. Durch die Teilnahme am Programm sollen sich neue berufliche Perspektiven ergeben.
Als zweiten Punkt haben Sie die persönlichen China-Erfahrungen genannt.
Zum einen geht es natürlich um die vielfältigen Erfahrungen, die ein Ausländer, der in China lebt, jeden Tag macht. Angefangen vom Leben an der Uni und dem Austausch mit chinesischen Studenten. Wenn ich da an meinen eigenen Aufenthalt denke, fallen mir zum Beispiel die ständigen Beteuerungen ein, was Deutschland doch für ein tolles Land sei. Das hat mich in dieser Häufigkeit ein wenig verwirrt. Egal ob vom Taxifahrer oder vom Ladenverkäufer, ständig wird man gefragt, aus welchem Land man kommt. Wenn man dann mit deguo (德国/Deutschland) antwortet, kommt sofort „Daumen hoch“ und henhao (很好/sehr gut). Wenn man dann ein wenig mehr Chinesisch versteht, erfährt man, dass dieses Urteil bei manchen auf einer bizarren Bewunderung für Hitler basiert, oder auch für deutsche Autos oder mir selbst unbekannten Fußballspielern.
Auch habe ich gelernt, körperliche Nähe von Fremden besser zu ertragen und in Menschenmassen nicht in Panik zu geraten. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, weshalb die Umsteigegänge in den Pekinger U-Bahnen so ewig lang sind: man hat nicht den kürzesten Weg zwischen dem Bahnsteig der Linie A und der Linie B gesucht, sondern lange Gänge quasi als Pufferzonen gebaut. In Stoßzeiten fahren die U-Bahnen nämlich im 90 Sekunden Takt mit entsprechenden Fahrgastzahlen. Und ich bin inzwischen stolz, wenn ich es mal wieder geschafft habe, die Rechnung für ein Essen mit chinesischen Freunden zu übernehmen.
Daneben bietet das Programm einen einzigartigen Einblick in deutsch-chinesische Wirtschaftsbeziehungen. Die Teilnehmer besuchen parallel zur Sprachausbildung an der Beijing Foreign Studies University (北京外国语大学) etwa 50 deutsche und/oder chinesische Institutionen und Unternehmen in Peking, Shanghai und einer “second-tier-city”. Da geht es dann zu einem Großkonzern, dem deutschen Mittelständler als Hidden Champion, zum Schiedsgericht in Peking oder zu einer Umweltschutz-NGO und dem Kaninchenkönig von China. Es sind immer sehr engagierte Mitarbeiter und Geschäftsführer, die den Teilnehmern ihr Unternehmen und Geschäftsfeld vorstellen und ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit den Herausforderungen in China weitergeben.
Als letzten Punkt haben Sie das Netzwerk genannt. Das Programm hat gerade sein 20-jähriges Bestehen gefeiert. Wie viele Teilnehmer kommen da zusammen?
Inzwischen gibt es ein beachtliches Netzwerk von über 200 Alumni. Etwa ein Viertel, also 50 Alumni, leben derzeit in China. Über die Hälfte der Alumni lebt in Deutschland und arbeitet dort zum größten Teil mit China-Bezug. Die Mobilität zwischen China und Deutschland ist recht hoch, so dass nach einigen Jahren in Deutschland oft auch wieder ein Einsatz in China erfolgt.
Für die meisten Teilnehmer war die Teilnahme an „Sprache und Praxis in China“ eine prägende Erfahrung, die die Karrieren nachhaltig beeinflusst hat. Das schafft unter den Teilnehmern – auch die einzelnen Jahrgänge übergreifend – natürlich einen starken Zusammenhalt. Das Alumni-Netzwerk bietet den aktuellen Stipendiaten deshalb eine hervorragende Unterstützung, bei der Suche nach Praktikumsplätzen oder auch einfach als Ansprechpartner für Firmenbesuche.
Sie sprechen die Praxisphase an. Welche Tätigkeiten übernehmen die Teilnehmer während der Praktika?
Allein schon wegen der unterschiedlichen Fachrichtungen und Abschlüsse ist das ganz verschieden. Jeder Teilnehmer kann sich sein Praktikum selbst aussuchen. Generell erleben alle Teilnehmer während der Praktikumsphase, wie schwer es sein kann, deutsche und chinesische Arbeitsweisen miteinander in Einklang zu bringen. Teilweise arbeiten die Teilnehmer auch in einer rein chinesischen Umgebung und unter chinesischen Chefs. Das kann gerade sprachlich eine große Herausforderung und manchmal sehr frustrierend sein, weil es unser eingeimpftes Effizienzdenken auf die Probe stellt. Ich ermuntere die Teilnehmer aber immer dazu auch in der Praxisphase diesen Schritt raus aus der Komfortzone zu wagen. „VW kann jeder“.
Das klingt alles sehr imposant. Sprachkenntnisse, interkulturelle Fähigkeiten und Experten-Wissen können aber auch Studenten mitbringen, die sich für ein Auslandsjahr in China entscheiden oder ein langfristiges Praktikum absolvieren. Da stellt sich natürlich die Frage nach dem Bedarf für so ein Programm.
Eigentlich nicht: die meisten Nicht-Sinologen haben während ihres Austauschsemesters oder Praktikums in China nicht genügend Zeit, um solide Sprachkenntnisse aufzubauen. Wenn man von dem Bedarf der deutschen Unternehmen in China ausgeht, bräuchte man viel mehr „Sprache und Praxis in China“ Programme. Es ist heutzutage nicht leicht, deutsche Mitarbeiter für einen Einsatz in China zu begeistern. Und ich gehe davon aus, dass in Zukunft auch in Deutschland sogenannte China-Experten immer stärker nachgefragt werden. Denn China ist mittlerweile ein so wichtiger Partner für Deutschland, dass die Nachfrage nach Bewerbern, die mit den Herausforderungen dieser Partnerschaft – seien sie wirtschaftlicher, rechtlicher, politischer oder kultureller Natur – umgehen können, ungemindert hoch ist.
Unabhängig von den einzelnen Karrierewegen, sollte meiner Meinung nach Deutschland als Land ein Interesse an diesem Programm haben: um unsere Interessen zu vertreten brauchen wir Persönlichkeiten, die in der Lage sind, als „Brückenbauer“ zu fungieren. Personen, die im Beruf wie auch privat in China immer wieder Deutschland und deutsche Denk- und Arbeitsweisen darstellen und in Deutschland wiederum China erklären und ein differenziertes Chinabild zeichnen.
Zu guter Letzt: in 20 Jahren „Sprache und Praxis in China“ ist sicher viel passiert. Was ist Ihnen im Rückblick besonders in Erinnerung geblieben und auf was können sich die Teilnehmer in Zukunft freuen?
Jeder, der nach China kommt, wird sich über die Dynamik des Landes, die Neugier und Freundlichkeit der Kommilitonen, Kollegen und Nachbarn und über die Kuriositäten des Alltags sowie über das phantastische Essen freuen. China ist offener geworden, aber nach wie vor unglaublich schwer zu verstehen. Es ist ein intransparentes und widersprüchliches Land – man gibt einerseits bedenkenlos Daten über Smartphones frei, wenn man dadurch Bequemlichkeit und finanzielle Vorteile bekommt, im Geschäftsalltag muss man dagegen selbst bei Kollegen um Informationen kämpfen, weil jeder nur so viel preisgibt, wie unbedingt notwendig ist: Wissen ist Macht.
Wer nach China kommt, wird lernen Geduld zu haben, flexibel zu sein, Chancen beim Schopfe zu packen, optimistisch zu sein und manchmal Entscheidungen auf einer sehr dünnen Faktenlage treffen zu müssen. Das waren für mich alles sehr komplementäre Erfahrungen zu dem, was ich aus Deutschland kannte. Heute wie damals ist China ein Abenteuer – das Programm „Sprache und Praxis in China“ sorgt dafür, dass der Aufenthalt in China darüber hinaus auch eine wertvolle und bereichernde Erfahrung wird.
Copyright: sämtliche Fotos zur Verfügung gestellt von der DAAD-Außenstelle Beijing
Mehr Informationen zu „Sprache und Praxis in China“ findet Ihr auf den Internetseiten des DAAD in Deutschland und der DAAD-Außenstelle in China. Die Bewerbungsphase für Sprache und Praxis 2017-2018 läuft noch bis zum 31.01.2017. Bewerben können sich Graduierte (d.h. das Studium muss bis zum Beginn des Programms im Sommer 2017 abgeschlossen sein) der Fachrichtungen Natur-, Ingenieur-, Rechts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften sowie Architektur.