Millionen Chinesen leben mittlerweile verstreut über alle Kontinente der Welt, viele sind außerhalb Chinas aufgewachsen. Eine der größten Migrationswellen fand zu Beginn von Chinas Öffnungspolitik statt, als junge Familien hofften, ihren Kindern im Ausland eine bessere Zukunft bieten zu können. Oft bedeutete dies, dass ein oder beide Elternteile zuerst ins Ausland zum Arbeiten oder Studieren gingen und die Kinder erst aus der Obhut der Großeltern holten, wenn die Bürokratie in den USA oder Europa überwunden war.
Das Gefühl, fernab der Eltern aufzuwachsen und der Moment, an dem man die Eltern das erste mal bewusst trifft, sind prägende Erlebnisse für zahllose junge Erwachsene mit chinesischem Hintergrund. Eine anonyme Autorin teilt ihre Erinnerungen mit den sinonerds-Lesern.
Glücklich und freudestrahlend hüpfte ich durch die ganze Wohnung. Meine Tante hatte kurz vorher verkündet, dass sie mit mir am nächsten Tag in den Vergnügungspark fahren wird. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen und hatte mir ausgemalt, wie schön der nächste Tag werden würde. Nur meine Oma lag still neben mir und wirkte traurig. „Nainai, bist du traurig, dass du nicht mitkommen kannst? Gugu hat sicher nichts dagegen, wenn du auch mitkommst.“ Sie sagte nichts, streichelte meine Wangen und drehte sich auf die andere Seite.
Das Auto hielt nicht, wie erwartet, vor dem Vergnügungspark, sondern vor den Toren eines Compounds. Und dann stieg eine Frau zu mir ein, die ich bis dahin nur von Fotos kannte. „Ich bin’s… Mama.“ Sie sah mich leicht verunsichert an und wusste nicht recht, was sie als nächstes sagen sollte. Da fing ich an zu weinen. Zu groß war die Enttäuschung über die Tatsache, dass meine Tante mich angelogen hatte. Auch sah ich die Enttäuschung in den Augen meiner Mama, die sich unser Wiedersehen sicherlich anders vorgestellt hatte. Aber mir war in dem Moment alles egal gewesen. Ich wollte in den Vergnügungspark! Ich schrie und weinte und wollte zu meiner Nainai, und so endete mein so schön ausgemalter Tag mit ganz viel Frust und Tränen.
Obwohl das erste Treffen mehr schlecht als recht verlaufen ist, brachte meine Oma mich fortan immer öfter zum Haus meines Onkels, bei dem meine Mama wohnte. Mir wurde bald klar, dass sie mich mit nach Deutschland nehmen würde. Anfangs noch etwas zurückhaltend, gewöhnte ich mich schnell an die neue Situation, auch wenn ich nur widerwillig meine Oma zurücklassen wollte. Es mag hartherzig klingen, aber ich hatte in den Jahren, die ich bei meiner Oma verbrachte hatte, keine wirkliche Sehnsucht nach meinen Eltern gehabt. Zwar bekam ich einmal im Jahr ein großes Geburtstagspäckchen mit unendlich vielen Spielsachen und Süßigkeiten aus Deutschland zugeschickt als Erinnerung daran, dass sie noch existieren, aber für mich waren meine Eltern Fremde, die ich seit meinem zweiten Lebensjahr nicht mehr gesehen hatte. Ich konnte auch an einer Hand die kurzen Telefonate mit meinen Eltern abzählen, da diese damals noch sehr teuer und umständlich waren. Aber an Fürsorge und Zuneigung hatte es mir dennoch nie gefehlt. Und doch war ich anders. Ich war das “Mädchen ohne Mama und Papa”, wie mich manche Kinder aus der Vorschule nannten. Auf Schulfesten kamen stattdessen meine Oma und meine Tante mit, um mich bei den kleinen Wettkämpfen der Vorschule zu unterstützen, und da ich als kleines Kind oft ins Krankenhaus musste, war meine Oma immer diejenige gewesen, die meine Hand hielt und so lange an meiner Seite blieb, bis es mir besser ging.
Jetzt hatte ich plötzlich wieder eine Mama, und ich musste gestehen, es war schön, sie wiederzuhaben! Endlich gab es eine Person auf dieser Welt, die ich nicht mit meinen Cousinen und Cousins teilen musste. Sie überhäufte mich mit Spielsachen, gab mir all ihre Aufmerksamkeit und kleidete mich komplett neu ein. Nach einiger Zeit zog ich endgültig zu meiner Mama.
Eine Woche vor dem Abflugsdatum kamen mich zwei von meinen Cousinen ein letztes Mal besuchen. Wir alberten herum, spielten mit meinen neuen Spielsachen, und irgendwann lockte mich meine ältere Cousine auf den Balkon. Sie fing an, von Deutschland zu schwärmen, und während ich ihr zuhörte, entdeckte ich einen Schatten hinter einem Häuschen, das sich hinter unserem Wohnblock befand. Für eine halbe Sekunde sah ich meine geliebte Nainai, die sich schnell hinter dem Häuschen versteckte. Obwohl ich noch so jung war, wurde mir in dem Augenblick klar, dass ich sie vor meinem Abflug nicht mehr sehen würde, und dass sie das meinetwegen tat. Meine Oma hatte sich dafür entschieden, nicht zum Flughafen zu fahren, damit mir der Abschied nicht noch schwerer fallen würde. Weil sie mich dennoch ein letztes Mal sehen wollte, hatte sie sich mit meiner Cousine zusammengetan, die mich mit Absicht ins Freie lockte, damit meine Oma mich ein letztes Mal (vom Weitem) sehen konnte.
Dann kam der große Tag. Ganz tapfer verabschiedete ich mich am Flughafen von Tanten und Onkeln, von Cousinen und Cousins und von meinen Großeltern mütterlicherseits. Einen Kloß im Hals hatte ich trotzdem. Meine Nainai war, wie ich bereits geahnt hatte, nicht gekommen. Ich drückte meinen Plüschhasen ganz fest an mich und ging, ohne mich umzudrehen, zielstrebig mit meiner Mama zum Gate. Damals war ich sechs Jahre alt.
Am Flughafen in Frankfurt am Main wartete mein Papa bereits gespannt auf uns, und zusammen fuhren wir mit dem Zug in meine neue Heimatstadt: Berlin. Kalt, windig, regnerisch… diese Stadt zeigte sich an dem Tag nicht gerade von ihrer besten Seite. Aber als wir dann zu Hause im Warmen saßen und ich ganz entzückt mein allererstes Marmeladenbrot aß, siegte meine Neugier, und ich gab meinem neuen Zuhause doch eine Chance.