Auf Reisen erlebt jeder Gastfreundschaft anders. Manchmal ist man schon froh, nicht seltsam angeschaut oder gar gegrüßt zu werden. Oftmals erleben wir Freundlichkeit, die an der Grenze zur eigenen Bequemlichkeit abrupt endet. Was ich im sommerlichen Taiwan erlebte, übertraf jedoch alle bisherigen Gesten von vollkommen Fremden auf meinen bisherigen Reisen.
Es gibt manchmal Tage, da führt eines zum anderen… einfach so. Ich lief an jenem Morgen in Dong Hai 東海, einem Vorort von Taichung 台中, mit drei Zielen im Kopf los: einen Geldautomaten finden, ein kleines Frühstück auftreiben und im örtlichen Künstlerviertel Fotos schießen. Es begann damit, dass ich mir ein Sandwich an der Straße kaufte und der Verkäufer mir dazu gratis einen Becher 牛奶茶 (niú nǎi chá, Milchtee) anbot. Nicht so einen Fingerhut, nein, einen richtigen Becher. Er war warm, nicht zu süß und schmeckte ausgezeichnet. Anschließend, auf dem Weg ins Künstlerviertel, kam ich an einem kleinen Laden vorbei, der Ölmalereien im Fenster hatte. Einige sehr hübsch, andere furchtbar kitschig. Der Laden wirkte sympathisch unordentlich, schon hatte ich den Türgriff in der Hand.
Drinnen merkte ich schnell: nicht hauptsächlich Kunst, sondern Tee wird hier verkauft. In den Regalen unter und hinter den Gemälden stapelten sich gepresste Pu’er-Ziegel (普洱茶餅). Anders als in deutschen Teeläden fehlte jedoch der Geruch stark parfümierter Teesorten. Kaum einen Meter hinein fragte mich eine nette Dame, ob ich nicht einen Tee probieren wollte und alsbald begann der Chef, welchen aufzubrühen. Aus dem “Tee probieren” wurde eine Teeverkostung mit Pu’er, weißem Tee, und taiwanischen Sorten. Es war Mittag geworden, der Mitarbeiter lief los, um Essen zu holen und ich wurde kurzerhand eingeladen, mit dem Chef, seiner Frau und dem Mitarbeiter zu essen, was ich dankend annahm.
Mein Tee ist dein Tee
Nachdem ich mich verabschiedet, den Geldautomaten gefunden und einige Fotos gemacht hatte, sah ich einen weiteren, gemütlich aussehenden, kleinen Laden. Holzwände, eine kleine Veranda. Ich ging hinein…und siehe da: wieder ein Teehändler. Dieser Laden war halb Antiquariat, halb Teeladen und vollgestopft mit Tassen, Kannen, Laternen, einem alten Tropenhelm und japanischen Musikinstrumenten.
Der Besitzer war gerade im Begriff, Tee für drei Kunden zuzubereiten. Er war Anfang Vierzig, die langen Haare an der Seite kurz rasiert und trug ein traditionell anmutenden Leinenhemd sowie eine altmodische Nickelbrille. Als er mich sah, reichte er eine fünfte Tasse und so saß ich in einer neuen Runde, erzählte, wo ich herkam und genoss so ausgezeichneten Tee, wie ich ihn selbst wohl kaum hinbekommen würde. Erst kurz bevor ich ging eröffnete man mir, dass heute eigentlich geschlossen sei, und die Kunden von weither angereiste Gäste seien. Im Nachhinein fiel mir dazu ein Spruch aus Konfuzius’ Lunyu ein: 有朋自遠方來,不亦樂乎?
Noch ganz eingenommen von diesen schönen Eindrücken holte ich meinen Rucksack aus dem Hostel, wo mir die Besitzerin Yoyo zum Abschied einen Oreo-Milchshake machte. Er war cremig, süß, eiskalt und serviert in einem Laborglas. In dem Bewusstsein, dass ich lange würde suchen müssen um wieder ein so nettes Hostel zu finden, stieg ich in den Bus Richtung Taichung Hauptbahnhof, in dessen Nähe ich noch ein Zimmer für die kommende Nacht gebucht hatte.
Der Bus war so gedrängt voll, dass sich niemand bewegen konnte und ich meinen schweren Armeerucksack absetzte, um niemanden zu erdrücken. Als mir eine Flasche aus der Tasche fiel, half mir ein älterer Herr, sie wieder zu verstauen. Wir kamen ins Gespräch. Er fragte mich, wie ich die Taiwaner fände und ich erzählte ihm, dass ich von ihrer unbeschwerten Gastfreundschaft überrascht und begeistert sei. Ich illustrierte diese Einschätzung mit meinen Erlebnissen vom Vormittag. Kurzerhand lud er mich zu sich nach Hause, keine zehn Fußminuten von meinem Hostel entfernt, zum Abendessen ein.
Er erzählte mir, er sei Englischlehrer und gehe zum Ende des Jahres in den Ruhestand. Zwar war er mehrmals in Europa, aber noch nie in Deutschland, das stehe nächstes Jahr auf dem Plan. Er machte den Fernseher an, schaltete auf einen Nachrichtensender und wir unterhielten uns über Trump, den Taifun und die Welt, bis das Essen fertig war. Wer ostasiatische Gastgeber kennt, der kann sich vorstellen, wie schnell meine Schüssel immer wieder aufgefüllt wurde, wenn ich mir nicht selbst zügig genug nachnahm. Nach dem Essen lud er mich noch ein, bei meiner Rückkehr nach Taichung bei ihm zu übernachten. Die Floskeln, mit denen ich mich bedankte, fühlten sich langsam verbraucht an, weil ich sie so oft wiederholte.
Im Hostel angekommen, wollte ich eigentlich nur noch meine Unterkunft für die nächsten Tage organisieren. Doch ehe ich es mir versah, wurde ich erneut angesprochen, diesmal von einer gemischten Gruppe, die sich online verabredet hatte: Ein Handwerker, ein ITler, ein Hostelbesitzer, drei Japaner, ein sehr schüchterner Heavy-Metal-Gitarrist aus Hokkaido und eine Kaffee-Fahrradbesitzerin hatten den Großteil des Gemeinschaftsrraumes in Beschlag genommen. Im späteren Verlauf des Abends bekam ich noch einmal Abendessen, zweimal Nachtisch und drei Bier. Anschließend fiel ich ins Bett, völlig in Gedanken versunken darüber, wie ereignisreich dieser Tag war.
Zurück in Kaltland
Nun bin ich wieder in Hamburg, friere im kalten Dezemberwind und frage mich noch immer, woher diese Offenheit gegenüber einem absolut Fremden kam. Viele Freunde haben mir von netten und gutherzigen Menschen berichtet, die sie auf ihren Reisen getroffen haben, doch für mich war es das erste Mal, Gastfreundschaft in dieser Form und so geballt an einem Tag zu erleben. Während meines restlichen Aufenthalts auf Taiwan gab es noch einige ähnliche Tage und Situationen. Stets dachte ich mir dabei, dass mir so etwas in Deutschland nicht passieren würde.
Doch ich glaube, das ist der falsche Ausgangs-gedanke. Vielleicht sollten wir uns nicht fragen, ob uns unsere Mitbürger zu Hause mit der gleichen Herzlichkeit begegnen würden, sondern ob wir bereit wären, den Fremden in unserer Heimat das Gleiche zuteilwerden zu lassen. Würden wir einen Touristen im Bus zu einem Abendessen bei uns einladen? Würden wir es ablehnen, wenn jemand für seinen Anteil am Essen bezahlen möchte? Ich glaube, dass hierzulande bei derlei Entscheidungen zu viel nachgedacht wird. Die Angst vor Fremden, zum Beispiel die Angst davor, was sie in unserer Wohnung anstellen könnten, ist größer als das Vertrauen in Menschen und die Neugier darauf, was sie uns erzählen können. Die Taiwaner, denen ich begegnete, können hier ein Vorbild sein.
Image credits: Titelbild mit freundlicher Genehmigung von Wang Youren. Oreo-Shake von Cai Yalian. Alle übrigen Bilder von Arnaud Boehmann.