Das erste Mal entdeckte Steffi (23) die Webseite von Shein als sie im März 2020 nach neuen Klamotten auf Google suchte. Normalerweise würde sie in ein Geschäft gehen, wenn sie Kleidung braucht, doch in Corona-Zeiten ist alles anders. Ein schöner Rock bei den Suchergebnissen leitete sie weiter zu Shein, das wie die englischen Wörter “she in” ausgesprochen wird. Zwar hatte sie vorher noch nie von dieser Firma gehört, aber dadurch, dass die Beschreibungen in fehlerfreiem Deutsch waren und die Produkte insgesamt ordentlich aussahen, vermutete sie, dass es sich um einen kleinen Anbieter irgendwo in Deutschland handeln musste. Dass es sich bei Shein um ein chinesisches Unternehmen handelt, bemerkte Steffi erst nach der Bezahlung: laut Sendungsverfolgung befand sich ihre Bestellung noch in Guangzhou und würde erst in circa zwei Wochen ankommen.
Seit Anfang Juni 2021 rangiert Shein auf der Liste der am meisten heruntergeladenen Shopping-Apps in Deutschland auf Platz Nummer 1, noch vor Branchenriesen wie Amazon, Zalando, Nike, Zara und Adidas. Dennoch haben die meisten Personen über 30 noch nie von der Firma gehört und das, obwohl das Unternehmen mehr als 20 Millionen Follower auf Instagram vorweisen kann, schon Konzerte mit Katy Perry, Nick Jonas und Lil NAS X organisiert und mit Bianca Claßen von BibisBeautyPalace zusammengearbeitet hat. Nicht mal einen Eintrag auf Wikipedia gibt es bisher über Shein, das 2020 bereits mit 15 Mrd. US-Dollar bewertet wurde, in etwa so viel wie der Sportartikelhersteller Puma. Als nächstes Ziel hat sich das Unternehmen übrigens vorgenommen, innerhalb des nächsten Jahres den Umsatz von Zara zu übertreffen.
Über die Hintergründe von Shein ist relativ wenig bekannt. Das Unternehmen bevorzugt es, sich bedeckt zu halten, veröffentlicht kaum Pressemitteilungen und gibt bis auf wenige Ausnahmen keine Interviews. Berichten zufolge wurde der Vorgänger von Shein 2008 von Chris Xu (许仰天) gegründet, über den im Internet ebenfalls nur wenig verlässliche Informationen zu finden sind. Es lassen sich insgesamt nur vier Fotos von ihm aufrufen und selbst seine Alma Mater wird je nach Quelle als „Washington University“ (wobei auch nicht klar ist, welche Universität damit genau gemeint ist) oder als „Qingdao University of Science and Technology“ angegeben. Eine alte Version der Shein-Webseite nannte einst New Jersey als den Ausgangspunkt des Unternehmens, obwohl offizielle Dokumente den Firmensitz in Nanjing, China bestätigen. Chris Xu selbst lernte sein Handwerk wohl ursprünglich als Spezialist für SEO, also Suchmaschinenoptimierung. Später gründete er die Webseite sheinside.com, auf der er in China hergestellte Hochzeitskleider erfolgreich ins Ausland verkaufte. 2015 folgte dann die Umbenennung von von SheInside in Shein und die Ausweitung des Geschäfts auf Frauenmode allgemein. Inzwischen bietet die Firma eine umfassende Palette von Kleidung für jeden Geschmack und expandiert sogar in den Bereich der Beauty- und Haushaltsprodukte.
Mit einer enormen Marketing-Kampagne auf Instagram, Twitter, Facebook, Pinterest und Tiktok, gesponserten Links bei der Google-Suche und kaum zu unterbietenden Preisen räumt Shein derzeit die Fast-Fashion-Industrie auf, die bisher von Platzhirschen wie H&M, Zara und Primark dominiert wurde. Die Preise – Kleider für 7€, Blusen für 12€ und Jeans für 18€ – liegen dabei teilweise noch deutlich unter denen der ohnehin günstigen Konkurrenz. Shein fokussiert sich dabei bisher auf die unter 25-Jährigen, die mit dem Smartphone aufgewachsen sind und gerne Kleidung im Internet bestellen. Während in China solch niedrige Preise auch auf der Shopping-Plattform Taobao zu finden sind, eröffnet Shein nun auch ausländischen Käuferinnen und Käufern den (fast) direkten Zugang zu den Bekleidungsfabriken im Land. In China selbst ist die Firma nicht aktiv und daher komplett unbekannt, wahrscheinlich weil sie es auf dem lokalen Markt wesentlich schwerer haben dürfte, Wettbewerber zu unterbieten.
Doch Schleuderpreise sind nicht das einzige Erfolgsrezept von Shein. Eine weitere Besonderheit ist auch die schiere Menge an Produkten und die Geschwindigkeit, mit der neue Stücke designt und produziert werden können. Laut verschiedener Veröffentlichungen werden auf der Webseite 500 bis 2.000 neue Artikel pro Tag gelauncht. Die Firma revolutioniert dabei, wie Mode hergestellt und verkauft wird. War es bisher Standard, Kleidungsstücke bei den Fabriken mit entsprechendem Vorlauf vorzubestellen, in der Hoffnung damit den Geschmack der Kunden im Geschäft zu treffen, stellt Shein eine enorme Palette von Produkten auf seiner Webseite aus und analysiert dann mit Hilfe von künstlicher Intelligenz, welche Produkte wie stark nachgefragt werden. Das System erkennt, welche Produkte häufiger gekauft werden und steigert automatisch deren Bestellung bei den Fabriken. Dazu operieren Shein und seine Zulieferer auf einer gemeinsamen Software-Plattform, die eine Koordination von Nachfrage und Produktion in Echtzeit ermöglicht. Durch langjährige Zusammenarbeit mit den Fabriken in der Nachbarschaft rund um die Zweigstelle des Unternehmens in Guangzhou, die teilweise auf die Zeiten des Geschäfts mit Hochzeitskleidern zurückgeht, kann Shein auch kleine Produktionsmengen von teilweise nur 100 Stück günstig und schnell herstellen lassen. Während im stationären Handel oftmals große Bestellmengen für die Filialen nötig sind und nur eine begrenzte Anzahl an Produkten gleichzeitig verkauft werden können, erlaubt es Sheins komplette Ausrichtung auf das Online-Geschäft, mehr, günstiger und schneller neue Artikel zu produzieren, zu testen und zu verkaufen.
Auch bei der Kreation neuer Designs setzt Shein auf neueste Technologie. Das Unternehmen ist einer der größten Kunden von Google in China, einerseits, um mit Werbung zu bestimmten Stichworten Kunden anzulocken und andererseits, um mit Hilfe von Google Trend Finder gefragte Styles und Kleidungsstücke schnell und weltweit ausfindig zu machen. Hinzu kommt eine genaue Analyse der Konkurrenz und der verkauften Produkte auf der eigenen Plattform. Durch die bereits erwähnte Integration mit den zuliefernden Fabriken vergehen bei Shein daher zwischen dem Design neuer Artikel und deren Fertigung durchschnittlich gerade einmal 5-7 Tage, was bei etablierten Marken normalerweise circa drei Wochen dauert. Diese blitzschnelle Umsetzung von neuen Produkten wird daher von einigen, in Abgrenzung zur Fast-Fashion, schon als „real-time fashion“, also Mode in Echtzeit, bezeichnet.
Ein weiterer Erfolgsfaktor von Shein ist die Fokussierung auf die eigene App. Während in China viele Unternehmen und auch Regierungsstellen keine oder sehr geringe Aufmerksamkeit auf ihre Webseite legen und stattdessen über WeChat, Alipay oder die eigene App mit den Kunden kommunizieren, gehen in Deutschland und Europa noch viele Personen den Weg über die Webseite. Dieser Trend scheint sich jedoch zu wandeln und besonders für die jüngere Generation sind das Smartphone und die entsprechenden Apps eine Selbstverständlichkeit. Die Kunden zur Verwendung der eigenen App zu verleiten und dort zu halten, stellt daher eine Kunst dar, die in China schon weit entwickelt ist. Auch die Shein-Kundin Steffi wurde mit Rabattgutscheinen überredet, die Shein-App herunterzuladen und bestellt inzwischen darüber ihre Kleidung. Zwar hat sie auch die H&M-App vor einiger Zeit einmal heruntergeladen, um Zugriff auf ihre Kundenkarte zu haben, benutzt sie aber sonst nie.
In der Shein-App hingegen animiert ein ausgefeiltes System, bei dem man Punkte sammeln und später wiederum für Gutscheine und sonstige Rabatte einlösen kann, zur häufigen Interaktion. Punkte bekommt man nicht nur beim Einkaufen, sondern auch allein schon für das Öffnen der App und das Verfassen von Reviews für die gekauften Produkte, welche wiederum neue Kunden zum Kauf verleiten können. Außerdem machen die tausenden neuen Produkte, die jeden Tag veröffentlicht werden, den Blick in die App noch anziehender. Inzwischen kann Shein 120 Millionen angemeldete User vorweisen, von denen sich 30 Millionen täglich einloggen, die Hälfte davon in den USA. Eine Analyse der Analysefirma apptopia zeigt deutlich, wie Shein es schafft, seine Kunden immer wieder auf die eigene Plattform zu locken.
In dieser Hinsicht ist Shein mehr ein IT-Unternehmen als eine Kleidungsmarke. Beispielhaft hierfür steht außerdem, dass auf der chinesischen Webseite von Shein neben Designern, Marketing-Managern und Logistikern auch hunderte IT-Entwickler gesucht werden. Shein ist jedoch auch vor Problemen nicht gefeit. So wurde die Firma unter anderem bezichtigt, Designs von unabhängigen Modeschaffenden ohne deren Erlaubnis kopiert zu haben. In einem weiteren Fall verkaufte das Unternehmen kurzzeitig eine Halskette mit einem Hakenkreuz als Anhänger, die bei den Kunden auf heftige Kritik stieß. Shein sei “ignorant” und “unsensibel gegenüber anderen Kulturen”, so die Resonanz. Dass das Unternehmen daraufhin den Artikel entfernte und erklärte, dass das buddhistische Sonnenzeichen abgebildet werden sollte, machte dennoch einen unbeholfenen Eindruck.
Auch in Bezug auf schlechte Arbeitsbedingungen und mangelnde Nachhaltigkeit, die in der Fast-Fashion-Industrie häufig kritisiert werden, stellen sich auch bei Shein einige Fragen. Zwar bekennt sich das Unternehmen auf seiner Homepage zu sozialer Verantwortung und fairen Arbeitspraktiken, inwiefern diese jedoch auch in der Tat umgesetzt werden, muss bezweifelt werden. Die Verschwiegenheit des Unternehmens erschwert eine unabhängige Untersuchung erheblich und auch über eine offizielle Zertifizierung der Produktionsbedingungen in den Fabriken der Zulieferer verfügt das Shein nicht. Das Gleiche gilt auch für die Frage der Verwendung der Anfang 2021 in den Schlagzeilen breit diskutierten Baumwolle aus Xinjiang.
Shein hat es mit einer zielgerichteten Marketing-Kampagne, dem Einsatz von künstlicher Intelligenz und der engen Zusammenarbeit mit seinen Lieferanten geschafft, den weltweiten Bekleidungsmarkt zu erobern. Aufbauend auf diese Infrastruktur und der vertikalen Integration von Design, Produktion und Logistik steht der weitergehenden Entwicklung des Unternehmens nicht viel im Wege. Die Ausdehnung der Produktpalette auf höherwertige Kleidungsstücke, die Kooperation mit anderen Marken oder der Verkauf von Nicht-Kleidungsartikeln ist bereits in Gange. Und während die globale Konkurrenz um Zara und H&M mit ihren Ladengeschäften während der Pandemie deutliche Umsatzeinbußen und Ladenschließungen hinnehmen musste, wuchs Shein auch im achten Jahr in Folge um mehr als 100%. Den neuesten Zahlen zufolge erreicht die Firma inzwischen einen täglichen Umsatz von mehr als 70 Millionen USD, aufgeteilt auf eine Million Pakete und nimmt jetzt auch die Eröffnung eigener Läden in Angriff.
Steffi hat seit ihrem ersten Einkauf noch zwei weitere Male bei Shein bestellt. Zwar sei die Qualität der Produkte in der Tat so, wie man es bei diesen niedrigen Preisen erwarten würde, aber bei attraktiv designten T-Shirt für fünf Euro, nimmt sie das in Kauf und auch die durchschnittliche Lieferzeit von 10 Tagen macht ihr dabei nichts aus. Schuhe oder Winterjacken jedoch, die mehr als eine Saison halten sollen, probiert sie dann vor dem Kauf doch lieber im Geschäft an.
Titelbild: Shein-Webseite am 26.06.2021