Es ist Pfingstwochenende und die berüchtigten Eisheiligen lassen das Thermostat um 10 Grad nach unten fallen. Luo Yang sitzt, den Berliner Gepflogenheiten entsprechend, ganz in Schwarz in einem Wohnzimmer-Café. Überpünktlich angekommen, hat sie bereits eine halb ausgetrunkene Tasse Cappuccino auf dem kleinen Oma-Tisch vor sich stehen. Die frisch gebackene Shanghaierin ist für ihre Ausstellung GIRLS in Berlin, über die wir zuletzt berichtet haben. Sie ist ruhig und entspannt, und erkundigt sich neugierig nach der neueren deutschen Geschichte, bevor es mit dem Interview losgeht.
sinonerds: Wie fing es damit an, dass Du junge Frauen fotografiert hast?
Luo Yang: Das begann während meines Studiums an der Kunsthochschule Shenyang, wo es traditionell mehr Studentinnen als Studenten gab. Da habe ich angefangen, meine Freundinnen abzulichten, weil der Zugang sehr einfach war und sie sehr außergewöhnliche Persönlichkeiten waren. Außerdem war da auch eine starke persönliche Verbindung zu mir, da wir alle Frauen im gleichen Alter waren. Diese persönliche Bindung zu meinen Modellen spielt bis heute eine wichtige Rolle in meiner Arbeit.
Nach Shenyang hast Du lange Zeit in Beijing gelebt, und nun bist Du in Shanghai. Kannst Du Unterschiede feststellen zwischen Deinen Modellen aus diesen Städten?
Shenyang, Beijing und Shanghai sind sehr unterschiedliche Städte mit jeweils eigenem Charakter. Und dementsprechend waren die Mädchen, die Modell für meine Fotografien standen, geprägt von einem besonderen Charakter. Aber man muss auch sagen, dass Menschen, die sich mit Kunst beschäftigen, sowieso anders sind als die Mehrheit der chinesischen Gesellschaft.
Was war zum Beispiel besonders an Beijing?
An Beijing ist mir aufgefallen, dass die Kunst- und Kulturschaffenden dort viel freier und individueller waren als etwa in Shanghai. Viele der Mädchen, die ich in Beijing getroffen habe, haben nebenher ihre eigenen Projekte gehabt, wie etwa in Bands gespielt oder gebloggt und sind zu kleinen Stars in der Szene geworden.
Und in Shanghai?
In Shanghai ist es definitiv ruhiger als in Beijing, und das Leben ist viel mehr von materiellen Umständen bestimmt. Selbst ich als Künstlerin spüre diese Einschränkung während meiner Arbeit. Es ist eine Art von Überlebensdruck, den man in dieser Stadt sehr schnell verinnerlicht. Und dann gehört es eher zu Südchina, was mit einer ganz anderen Mentalität als im Norden einhergeht.
Aber Shanghai ist auch internationaler, moderne und viel offener. Natürlich gibt es auch einen gewissen Lifestyle, der aber auch seinen Preis hat und den sich eben nicht jeder leisten kann. Ich habe aber den Eindruck, dass die Stadt ein besserer Nährboden für moderne Kunst ist als Beijing, obwohl man in der Hauptstadt mehr Freiheit hat.
Wie steht es um den chinesischen Kunstmarkt – können chinesische Künstler heutzutage von ihrer Arbeit leben?
Vor allem Malerei ist sehr populär unter Sammlern. In China sammeln Leute aus den unterschiedlichsten Gründen Kunst. Für einige ist es nur eine Investition. Andere betreiben es als ein Hobby und es geht darum, einen gewissen Status und einen distinguierten Kunstgeschmack hervorzuheben. Einige haben auch überhaupt keine Ahnung von der Kunst und kaufen sie nur um des Namens willen. Es gibt eine wachsende Gruppe von Interessierten innerhalb des Landes, die auch bereit sind, für Kunst sehr hohe Summen zu zahlen. Teilweise viel mehr als etwa ausländische Kunstsammler. Sobald man sich mit seinem Namen etabliert hat, steigen die Preise auf dem Kunstmarkt ins Immense und man kann wahnsinnig viel Geld für seine Kunst verlangen.
Was hältst Du persönlich von dieser Entwicklung?
Ich sehe den aktuellen Hype in China um die Malerei kritisch, weil sie oft globalen Trends hinterläuft. Dann stellt sich die Frage, wie viel Authenzität und Eigenes vom Künstler hinter der Kunst steckt und ob das überhaupt noch chinesische Kunst ist. Ich glaube, dass in der Fotografie mehr China steckt als in der modernen chinesischen Malerei, wo der Künstler in einem ständigem Spagat zwischen Markttrends und Erwartungen steht. Bei der Fotografie sind das Setting, Motiv und die Lesart chinesisch, weil man eben in China sozialisiert worden ist. Und das wirkt sich auch in deinem gesamten Schaffen aus.
Und wie steht es um die Fotografie in China?
Leider ist der chinesische Kunstmarkt recht traditionell geprägt, sprich klassische Sujets sind beliebter als zu radikal-abstrakte Motive. In der Fotografie sind Schwarz-Weiß-Fotografien und Porträts von den sogenannten ethnischen Minderheiten sehr beliebt. Dokumentarische, realitätsnahe Fotos, so wie ich sie mache, sind noch nicht völlig angekommen.
Kannst Du von Deiner Kunst leben?
Reich werde ich nicht, aber ich kann meinen Unterhalt abdecken. Nebenbei nehme ich auch kommerzielle Auftragsarbeiten an, wie etwa Modefotoshootings. Die andere Hälfte meiner Zeit kann ich dann meiner eigentlichen Kunst widmen. Allerdings stammt meine (Kunst-)Kundschaft fast ausschließlich aus dem Ausland, wo ich auch regelmäßig ausstelle.
Wie siehst Du die Frauen in der heutigen chinesischen Gesellschaft? Was hat sich Deiner Meinung nach in den letzten Jahren verändert?
Eine positive Errungenschaft im modernen China ist sicher, dass es formal die Gleichstellung gibt. Frauen können genauso wie Männer über ihr Leben frei entscheiden und eine Karrierelaufbahn anstreben, die früher Männern vorbehalten war.
Allerdings stellen die traditionellen Rollenbilder weiterhin ein Problem dar, weil sie genau diese Freiheit der Frauen einschränken. Die Verinnerlichung dieser Werte führt zu vielen Konflikten, auch weil sie den modernen Lebensstilen teilweise widersprechen. Das Korsett der Tradition ist für mich das Hauptproblem, nicht nur für die Frauen, sondern für die gesamte chinesische Gesellschaft.
Kannst Du auf dieses gesellschaftliche Problem noch genauer eingehen?
Was in China passiert ist, war eine sehr abrupte Veränderung durch das rasante Wirtschaftswachstum. Der Wirtschaftsboom und die digitale Revolution sind Dinge, die das Leben hierzulande grundlegend verändert haben. Alles geschah viel zu schnell und die Menschen sind immer noch dabei zu lernen, wie man mit all diesen neuen Möglichkeiten umgeht.
Jenseits der 30 ändert sich alles. Plötzlich bekommen Heirat und Immobilien oberste Priorität und niemand redet mehr über das, was einen vorher bewegt hat. Ich finde es sehr enttäuschend, dass auf einmal niemand den Sinn und die Zeit mehr hat, über Kunst und Kultur zu reden. Was ist da passiert, frage ich mich oft. Aber dieses Problem gibt es nicht nur in China, sondern überall auf der Welt.
Kommen wir zurück zu Deinen Fotos: Warum hast Du diese Mädchen ausgewählt?
Was mich an ihnen fasziniert, ist ihre Natürlichkeit und eine gewisse Reinheit, die sie ausstrahlen. Sie sind alle jung, in ihren frühen Zwanzigern und noch nicht geprägt von ihrer Umwelt. Es ist ein ganz besonderer Lebensabschnitt. Später werden all diese gesellschaftlichen Erwartungen auf sie niederprasseln und sie werden ihre Ungezwungenheit und Naivität verlieren. Diese ihnen ureigene Reinheit und Authentizität wollte ich mit meinen Bildern einfangen.
Hast Du ein Lieblingsbild in Deiner gegenwärtigen Ausstellung?
Ja, allerdings. Beijing Couple ist mein Lieblingsfoto. Es gibt dazu auch eine interessante Hintergrundgeschichte. Damals war ich viel in der Beijing Punkrockszene unterwegs, in der das Mädchen sehr aktiv war. Sie führte damals einen Blog, in dem sie sehr frei über persönliche Themen schrieb. Unter anderem über ihr Sexleben und ihre wechselnden Sexpartner. Ihre selbstbewusste offene Art, über Sachen zu schreiben, bei denen andere sich nicht trauen sie öffentlich zu thematisieren, machten sie schnell zu einer Bekanntheit in der Bloggerszene.
Und mit der Bekanntheit kam auch das Geld. Wie bei so vielen anderen, die in der kurzen Zeit durch ihre Microblogs zu Bloggerstars (网红 wǎng hóng) aufgestiegen sind, meldeten sich bald die Leute aus der Wirtschaft und baten sie, in den Einträgen für ihre Produkte zu werben. Mittlerweile betreibt sie ihre Blogs hauptsächlich aus kommerziellen Gründen und von dem früheren Kern ist nicht mehr viel geblieben.
Ihre Geschichte ist für mich ein Pars pro Toto für die Entwicklung der gesamten Gesellschaft in den letzten Jahren. Mit dem Aufkommen von all den neuen Onlineplattformen und sozialen Netzwerken konnten Leute in sehr kurzer Zeit zu unglaublichem Ruhm kommen. Hypes gehen genauso schnell und mit der gleichen Intensität, wie sie kommen. Ich hoffe, dass nach dem Abkühlen solcher Internet-Hypes langsam eine Phase der Reflexion einsetzt und wir lernen, damit besser umzugehen.
Aber eigentlich habe ich noch ein Lieblingsfoto. Das zweite Bild zeigte ein Mädchen, das ihren Kopf kahl geschoren hatte. Ich fand das ziemlich mutig. Ihr momentaner Freund findet das wohl auch, weshalb sie nicht möchte, dass diese Bilder an die Öffentlichkeit gelangen. Daher ist das Foto leider nicht in der Ausstellung dabei.
Bleibst Du in Kontakt mit Deinen Modellen? Weißt Du, was aus ihnen geworden ist?
Mit einigen habe ich noch persönlichen Kontakt. Bei anderen, wie der Bloggerin aus Beijing, kann ich den weiteren Lebensverlauf online mitverfolgen. Das Interessante ist, dass die Frauen sehr unterschiedliche Wege eingeschlagen haben. Einige haben sich komplett gewandelt und sind nicht mehr zu erkennen in dem Mädchen, das auf den Fotos ist. Andere sind sich treu geblieben und machen weiterhin das, was sie damals schon bewegt hat. Ich hatte ja bereits zwei Geschichten erwähnt. Die Bloggerin aus Beijing etwa hat einen sehr großen Wandel durchgemacht: Sie hat sich Schönheitsoperationen unterzogen, geheiratet, und sich auch wieder scheiden lassen.
Was wird der Fokus Deiner zukünftigen Arbeit sein? Wirst Du bei Deinem Thema chinesische Frauen bleiben?
Ich denke, dass Frauen weiterhin ein wichtiges Thema bleiben, weil ich mich einfach mit ihnen sehr stark verbunden fühle. Meine Modelle sind ja quasi mit mir gewachsen, weil ich immer Frauen gewählt habe, die ungefähr mein Alter hatten und daher auch in einer ähnlichen Lebenslage waren. Aber nachdem ich mich lange auf Menschen fokussiert habe, fühle ich mich jetzt bereit, meinen Fokus weiter zu öffnen und andere Motive in Betracht zu ziehen. Mal schauen, in welche Richtungen es mich verschlagen wird. Berlin gefällt mir sehr gut und ich hoffe, eines Tages die Gelegenheit zu haben, zum Arbeiten und Leben für eine längere Zeit herzukommen.
Vielen Dank für das Interview Luo Yang. Weiterhin alles Gute für Deine Arbeit und wir hoffen, Dich mit Deinen Fotos bald wieder in Berlin begrüßen zu dürfen!
Das Interview wurde von Siyuan auf Chinesisch geführt und übersetzt. Titelbild credit: © Luo Yang und mo industries.