Ein Besuch im Haus der 10.000 Menschen

Die skurrile Welt der Chungking Mansions

Meinen Weg in die Chungking Mansions fand ich zufällig. Hongkong sollte eigentlich nur ein Zwischenstopp werden, um ein neues Visum für die Volksrepublik China zu bekommen. Mein Freund und ich hatten schon eine Weile nicht mehr gearbeitet, das chinesische Neujahr stand vor der Tür, wir waren viel gereist und langsam ging uns das Geld aus. Deshalb buchten wir das günstigste Hostel, dass wir finden konnten – und ignorierten bewusst DIE Kommentare, die die Umgebung des Hostels als unheimlich und dreckig beschrieben. Ein anderer Freund mit Übernachtungserfahrung in den Chungking Mansions hatte uns gesagt, dass es ein Erlebnis werden würde.

Von außen heben sich die Chungking Mansions mit ihren 17 Stockwerken nicht sehr von den umliegenden Mansions ab – bei näherer Betrachtung allerdings werden Unterschiede deutlich. Die Läden sehen für uns ein bisschen ranziger aus, die kleinen Gassen neben dem Gebäude sind dunkel und Wasser tropft von oben herab. Es stehen ein paar Tische herum, auf denen neben Pornoheftchen Sexspielzeug verkauft wird.

Von der Dunkelheit zur Dienstleistung

Vor dem Eingang steht eine Traube von Männern. Als wir die Mansions wollen, um unser Hostel zu finden, kommen sie sofort auf uns zu. „Hasch, Koko, what do you want?“, wispert es von allen Seiten. Im Inneren der Mansions ist das Licht kalt. In den Parzellen befinden sich Läden, die alte Nokia-Klapphandys verkaufen, indische Imbissbuden, currency-exchange-Läden, mindestens ein Friseur, das Büro einer Menschenrechtsorganisation….

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Das alles haben wir nicht erwartet. Wir suchen den Aufzug, doch es gibt zehn Stück, deswegen dauert unser Vorhaben länger als gedacht. Auf der Suche schauen wir uns um, und die Scheu schwindet langsam. Erstmal brauchen wir ein neues Ladekabel für mein Handy: Ich fasse mir ein Herz und frage einen der Verkäufer vor einem Laden mit indischen Haarpflegeprodukten. Er winkt uns, ihm zu folgen.

Wir gehen in den hinteren Teil des Gebäudes, wo unser Führer uns an einen ebenfalls indischen Mann weitervermittelt, der bis eben hinter der Theke eines Imbisses stand und uns jetzt in einen Laden führt. Keiner scheint hier zu arbeiten, aber er greift ein Ladekabel aus einem Regal und ich kaufe es. Nicht, was wir erwartet haben – aber mein Ladekabel habe ich. Wir machen uns wieder auf die Suche nach unserem Hostel.

Gebaut wurden die Chungking Mansions 1961. Seitdem hat das Haus viel erlebt: Brände, Stromausfälle, die Entdeckung durch Backpacker als billige Unterkunft, unzählige Polizeirazzien, den Aufbau einer engmaschigen Kameraüberwachungsanlage.

Gordon Mathews, der Anthropologie an der Chinesischen Universität Hongkong unterrichtet und die Mansions über viele Jahre untersucht hat, schätzt, dass täglich 10.000 Menschen das Haus betreten und verlassen. Viele der in den Läden verkaufen Handys (die im Zuge von 14-Tage-Rückgaberechten zurückgegeben worden sind) an Zwischenhändler, die diese dann in die ganze Welt verschiffen  – manchmal sogar containerweise. Mathews schätzt, dass im Jahr 2008 etwa 20% der Mobiltelephone im sub-saharischen Afrika durch die Mansions gegangen sind – auch wenn diese Zahl inzwischen wieder zurückgegangen ist.

Chungking Charme

Die Mansions mögen manchen Kinoliebhaber*innen aus dem Kultfilm Chungking Express von Wong Kar-Wai bekannt sein, der unter anderem hier spielt und auch gedreht wurde. Wir begegnen zwar nicht dem Cop Tony Leung oder bestellen im Imbiss von Faye Wong, aber die Mansions werden uns in den nächsten fünf Tagen vertrauter.

Wir gewöhnen uns langsam an das ständige Summen der billigen Neonlampen, an die vielen verschiedenen Sprachen, die um uns gesprochen werden, und die indische Musik, die aus vielen der Läden klingt. Wir probieren das für Hongkong unverschämt billige indische Essen, das zu dem einfachsten und leckersten gehört, was ich je gegessen habe; ich lasse mir beim Friseur den Bart rasieren (Gesichtsmassage inklusive); und wir kommen mit den Menschen, die hier wohnen und arbeiten, ins Gespräch. Viele sind aus Indien und Pakistan, andere sind in Hongkong geboren, aber auch viele Menschen mit afrikanischen Wurzeln leben hier.

8137346402_058865b463_zDie Menschen kennen sich. Zum Beispiel werden wir von unserem Hostel wegen Überbuchung zwischenzeitlich in ein anderes, das vom Bruder des Besitzers geleitet wird, verlegt. Die Dealer sind Tag und Nacht rund um die Mansions unterwegs – sie lassen uns aber in Ruhe, wenn wir sie ignorieren.

Einmal, als wir gerade die hausgemachten Süßigkeiten im hinteren Teil probieren, sehen wir ein paar Polizist*innen hereinkommen. Sie steuern zielstrebig auf einen der Männer zu, der uns eben noch Drogen angeboten hat. Wir beobachten sie gespannt und ein bisschen ängstlich, doch nach einer kurzen Unterhaltung verschwindet die Polizei wieder.

Seit diesen fünf Tagen versuche ich immer, wenn ich in Hongkong bin, eines der kleinen, billigen Zimmer in den Chungking Mansions zu buchen. Es ist nicht zu bestreiten, dass alles hier ein bisschen zwielichtig ist. Manche meiner Freund*innen, die mit mir in den Mansions waren, weigern sich, abends dort hin zu kommen – und ich kann ihnen keinen Vorwurf machen. Wer die Nerven dafür hat, sollte sich diesen merkwürdigen Mikro-Kosmos mal anschauen. Die Chungking Mansions haben mir ein Hongkong gezeigt, das mensch sonst selten zu Gesicht bekommt.

Für alle Reiselustigen mit Neigung zum Abenteuer: Chungking Mansions ( 重慶大廈 ), 36–44 Nathan Road. Tsim Sha Tsui, Kowloon, Hongkong.

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Die Bilder im Text wurden unter Creative-Commons-Lizenzen verwendet:

“Chungking Mansions” von Alexander Synaptic: Lizenz

“Chungking Mansions” von Kent Wang: Lizenz

“The various denizens of the Chungking” von Connie Ma: Lizenz

“Chungking Mansions from the rooftop” von Alexander Synaptic: Lizenz

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sinonerds-Autor*in

Moritz Roemer

Moritz wohnt in Berlin und hat in Sichuan, Zhengzhou und Beijing gelebt. Neben dem Studium der Sozialwissenschaften beschäftigt sich Moritz mit Aktivismus, Independent Film und damit, das beste Hotpot-Restaurant im näheren Umkreis zu finden. Ist definitv Taobao-abhängig.

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