Das Wort “Ich” ist wohl eines der am meisten gebrauchten in allen modernen, gesprochenen Sprachen. Doch vor nicht allzu langer Zeit war es in China tabu. Kin Man aus Macao beschreibt gemeinsam mit Mathilde, was für ihn das “Ich” in der kantonesischen Kultur bedeutet.
Aus dem Französischen übersetzt von Mathilde Denison Cheong
Für diese Reflexion über das „Ich“ in der modernen chinesischen Sprache – eine Sprache, die ich lieber als die Sprache der Han oder, auf Kantonesisch, der Hon bezeichne – versuche ich Egoist zu sein.
Ich habe mir oft selbst vorgemacht, dass sich mein „Ich“ in ein „portugiesischsprachiges Ich“ verwandelt sobald ich Portugiesisch spreche. Dennoch werde ich das Gefühl nicht los, immer einen Teil von dem „Ich“ meiner Muttersprache zu behalten. Dieses kantonesische „Ich“, das ich in mir trage, behält seine Eigentümlichkeiten, wenngleich seine Bedeutung durch die kulturelle Globalisierung kompromittiert ist. Auch wenn dieser Artikel im Original auf Portugiesisch war (und inzwischen über das Französische ins Deutsche gewandert ist), verbleibt ein Teil meines „Ich“ konfuzianisch und kantonesisch.
Eines der ersten Wörter, das ich meiner belgischen Frau Mathilde beibrachte, war das kantonesische „Ngo“ (nach der allgemeinen Romanisierung), das “Ich” bedeutet. Das Wort war für sie als französische Muttersprachlerin neu in seiner Aussprache. Seine Nasalität findet sich im klassischen Chinesisch, im modernen Hokkien und in der modernen Hakka-Sprache. Das entsprechende Schriftzeichen 我 wird ebenfalls auf Mandarin (wǒ) für das gleiche Wort verwendet.
Das “Ich” der Urzeit
Anders als bei westlichen Sprachen kann man bei dem sinischen “Ich” nicht auf die Etymologie der Wörter zurückgreifen. Man kann aber die Entwicklung der Schriftzeichen seit ihrer Erscheinung in der Orakelknochen-Innenschrift betrachten. Hier hatte das Zeichen die Gestalt einer Waffe und eine seiner ursprünglichen Bedeutungen war das Verb „töten“. In den meisten Fällen stellt der rechte Teil des Schriftzeichens einen Holzstab dar und der linke eine oder mehrere Klingen. Stab und Klinge sind verbunden.
Laut dem Gelehrten Guo Moruo (der unter anderem Goethe ins Chinesische übersetzt hat), stellte das Zeichen eine Axt dar, die am Stab befestigt war. Andere sahen entweder eine dreizackige Klinge oder ein waagerechtes Messer, dessen eine Seite scharf war und die andere stumpf, die jeweils am Ende eines Stabs befestigt waren. Die Theorie, die von einem waagerechten Messer ausgeht, ist heute am weitesten verbreitet. Tatsächlich kann man das Schriftzeichen dieses Messers 戈 in dem modernen Schriftzeichen 我 auf der rechten Seite noch immer erkennen. Dieses Schriftzeichen wurde auch für Familiennamen verwendet. Es ist kein Zufall, dass der eminente portugiesische Sinologe Pater Guerra es für die Umschrift seines eigenen Namens ins Chinesische wählte; er romanisierte es dann nach seinem eigenen System als “Kvao” (in Pinyin wird 戈 als gē umgeschrieben).
Es liegt nahe, in fremden Sprachen die Strukturen seiner eigenen Sprache zu erwarten. Doch obwohl man auf Kantonesisch heutzutage lernt, “Ich heiße…” zu sagen, verlangte es einst die Höflichkeit etwas zu sagen wie: „Kleiner (um Bescheidenheit auszudrücken) Familienname heißt X, mit Rufnamen Y.“ Die chinesische Höflichkeit basierte auf einer notwendigen Bescheidenheit, die entweder ehrlich oder bloß rituell war, und auf der Achtung anderer Menschen. In den meisten Fällen erniedrigt man sich hierarchisch oft denjenigen Personen gegenüber, an die man sich wendet, auch wenn man in der Hierarchie weiter oben steht.
Der kleine Gefolgsmann erlaubt sich eine ungeschickte Bemerkung machen
Im klassischen Chinesisch oder in zeitgenössischen Briefwechseln von Gelehrten findet man eine sehr strenge und komplexe Nutzung von Höflichkeitsformen. Am deutlichsten treten diese wohl im klassischsten aller Stile zu Tage, nämlich dem der Verwaltungsunterlagen in Taiwan. Diese Formen stehen in Abhängigkeit zum hierarchischen Kontext zwischen Empfänger und Absender, und zum Kontext, in dem die Dokumente verfasst sind. Auch in historischen Fernsehserien und Kostümfilmen aus Hongkong werden sehr oft Höflichkeitsformen verwendet. Anstatt von sich selbst als „Ich“ zu sprechen, betitelte man sich daher beispielsweise als „der kleine Bruder“, „der Gefolgsmann“ oder „der Diener“. In diesem Sinne wurden auch jene Dinge, die man selbst tat und dachte – oder sich nur auf einen selbst bezogen – als „dumm“ und „ungeschickt“ bezeichnet.
Als Kind in Macao hörte ich die Angehörigen der Generation meiner Eltern sich untereinander mit „großer Bruder“ oder „große Schwester“ ansprechen und sich selbst als “kleine/r Schwester/Bruder” zu bezeichnen, anstatt „Ich“ zu sagen. Auch wenn heute manche Leute sich im Scherz als „kleiner Bruder“ oder „kleine Schwester“ bezeichnen, ist deren Gebrauch als Höflichkeitsformen so gut wie verschwunden. Ich vermute, die Leute hören nicht besonders gern, dass sie älter sind.
Müsste ich diese westliche Idee einer Grammatik der chinesischen Sprache aufzwingen, wäre ich dazu geneigt, mich auf den verstorbenen Sinologen Simon Leys (1935-2014) zu berufen und dem „Ich“ als Subjekt eine wichtige Rolle zu geben. Andernfalls verbleibt das „Ich“ am zumindest eines der häufiger benutzten Wörter im Chinesischen. In der voranschreitenden Globalisierung finde ich es lohnenswert, über die zwischen Kulturen verschiedenen „Ichs“ nachzudenken. Allzu leicht verschwimmen sie ineinander.
Titelbild credit: Danke an Arseny; Bilder im Text © National Museum of Taiwan. Foto von Kin Man und Mathilde von Lorenz Daniel.