Einmal “Kind sein” in China: Fazit eines Austauschschülers

Miguel Waltereit, 21 Jahre, packte vor fünf Jahren seinen Koffer und stürzte sich ins Abenteuer China. Die Faszination für das Land der Mitte lässt den ehemaligen Austauschschüler bis heute nicht los. Mit sinonerds spricht der gebürtige Kölner über sein Leben als chinesisches Familienmitglied, seine Erfahrungen im chinesischen Schulalltag und persönliche Veränderungen.

Miguel Waltereit

Miguel Waltereit

sinonerds: Miguel, vor gut fünf Jahren bist Du als 16-Jähriger alleine nach China aufgebrochen. Was hat Dich dazu bewogen?

Miguel Waltereit: Ich hatte in der Schule bereits Englisch und Französisch gelernt und Spanisch konnte ich wegen meiner familiären Herkunft sowieso. Weil ich gerne Sprachen lerne, wollte ich mich auch einmal mit einer ganz fremdartigen Sprache beschäftigen. Also trat ich der Chinesisch-AG meiner Schule bei. Meine Chinesisch-Lehrerin war diejenige, die mich schließlich auf die Idee brachte, ein Austauschjahr in China zu machen. Ihr Sohn hatte vor kurzem mit der Austauschorganisation „Youth for Understanding“, kurz: YFU, ein Jahr in den USA verbracht und war sehr zufrieden mit dem Programm. Ich bewarb mich daher ebenfalls bei YFU und hatte schon zwei Wochen nach dem Bewerbungsgespräch die Zusage im Briefkasten.

Wie hast Du Dich auf Dein Austauschjahr vorbereitet?

Ich habe in dem Jahr vor meinen Abflug im Selbststudium versucht soviel Chinesisch zu lernen, wie möglich. Leider habe ich es nicht zu mehr als dem grundlegendsten Small-Talk-Niveau gebracht. Seitens YFU gab es dann noch eine einwöchige Vorbereitungstagung, bei der ich die anderen deutschen Austauschschüler kennenlernen konnte. Ansonsten habe ich Bücher über China gelesen, die beschreiben, wie man sich im Land zu verhalten hat. Im Nachhinein finde ich diese Art von Buch aber wenig lehrreich und eher schrecklich unterhaltsam, weil so viel pauschalisiert wird.

Nachdem Du in China angekommen bist, wo hast Du gelebt?

Ich habe mein Austauschjahr in Nanjing (南京 Nánjīng) verbracht, Hauptstadt der Provinz Jiangsu. Die Stadt liegt etwa 300km nordwestlich von Shanghai und spielt in China wegen ihrer historischen Bedeutung als frühere Hauptstadt eine große Rolle. Nanjing hat viel Lebensqualität zu bieten: Sie hat alles, was man für ein gutes Leben braucht und ist dabei weniger verschmutzt, als andere Großstädte.

Du warst ein Jahr lang chinesisches Familienmitglied. Was kannst Du uns über Deine Gastfamilie erzählen?

Tatsächlich habe ich in zwei Familien gelebt, die beide sehr unterschiedlich waren. Meine erste Familie gehörte dem chinesischen Mittelstand an und bestand aus der klassischen Familienkonstellation Vater-Mutter-Kind. Mein Gastbruder war in meinem Alter. Vielleicht lag es daran, dass meine Gastmutter Lehrerin war, auf jeden Fall hat diese Familie mich sehr stark beim Chinesisch-Lernen unterstützt. Nach einem halben Jahr habe ich gewechselt und bin in meiner zweiten Gastfamilie gelandet. Die war für chinesische Verhältnisse sehr wohlhabend und auch sonst ganz anders. Aber einen Gastbruder hatte ich auch dieses Mal; er war ein Jahr jünger als ich. Letzten Endes kann ich sagen, dass beide Familien sehr gastfreundlich waren und mir sehr viel über die chinesische Kultur beibringen konnten. Ich hatte in beiden Familien eine tolle Zeit.

Miguel und seine Gastmutter

Miguel mit seiner Gastmama

Inwiefern unterscheidet sich Deinen Erfahrungen nach das Miteinander in einer chinesischen Familie im Vergleich zu einer deutschen Familie?

Ein großer Unterschied besteht auf jeden Fall darin, dass beim Eltern-Kind-Verhältnis in China Autorität eine sehr große Rolle spielt. Das in Deutschland inzwischen weit verbreitete Konzept der anti-autoritären Erziehung ist den meisten, konfuzianisch geprägten Chinesen fremd, und eine Kommunikation auf Augenhöhe findet in der Regel zwischen Eltern und Kind nicht statt. Was die Eltern sagen, das soll nie in Frage gestellt, sondern einfach befolgt werden. Auch mit 16 Jahren ist man in China definitiv noch „Kind“ und wird auch so behandelt. Dies zu akzeptieren und sich dementsprechend zu verhalten, fällt den zur Selbstständigkeit erzogenen deutschen Austauschschülern in der Regel ziemlich schwer. Wenn man ein gutes Verhältnis zu seiner Gastfamilie haben möchte, ist es elementar wichtig, darauf zu achten, seinen chinesischen Gasteltern und anderen älteren Familienmitgliedern gegenüber genug Respekt zu zeigen. Auch Disziplin wird in vielen Familien sehr wichtig genommen, da der Druck im chinesischen Schulsystem sehr groß ist und die Kinder extrem viel für die Schule pauken müssen. Dieser Druck und die fehlende Zeit zum „sich Ausprobieren“ führt bei vielen Kindern dazu, dass sie sich kindlicher und unreifer verhalten, als ihre deutschen Altersgenossen.

Was kannst Du uns über Deine Schule in China erzählen?

Die Jinling-Mittelschule (金陵中学 Jīnlíng Zhōngxué ) hat eine sehr interessante Geschichte. Sie wurde 1888 von amerikanischen Missionaren gegründet, und während des Nanjing-Massakers im zweiten Weltkrieg war sie der Ort, an dem der deutsche Nationalsozialist John Rabe eine Sicherheitszone errichtete und etwa 200.000 Chinesen das Leben rettete. Die Schule gehört heute als sogenannte „key school“ (重点学校 zhòngdiǎn xuéxiào) zu den besten Schulen der Stadt und ist auch national recht bekannt. Sie umfasst die Mittelstufe und die Oberstufe, also sechs Jahrgangstufen, mit insgesamt etwa 6000 Schülern. Wie die meisten deutschen Austauschschüler in China, besuchte ich die Jahrgangsstufe 10, also die 高一 (gāo yī), und in meiner Klasse gab es außer mir noch 55 andere Schülerinnen und Schüler. Der Unterricht war sehr frontal, und da ich meist nicht sehr viel verstand, nutzte ich die Unterrichtszeit, um im Selbststudium mein Chinesisch zu verbessern. Da die Schule so berühmt war, war der Leistungsdruck für die Schüler besonders hoch, was das Freundefinden ziemlich erschwert hat. Ich hatte wirklich Glück, als ich schließlich zwei, drei Freunde fand, die gelegentlich mal Zeit hatten, auch außerhalb der Schulzeit etwas zu unternehmen.

Gab es neben Dir auch noch andere Austauschschüler/innen auf Deiner Schule?

Neben mir gab es noch ein Mädchen aus der Schweiz, die mit der Austauschorganisation AFS nach China gekommen war. Wir sind bis heute eng befreundet. Auch vor und nach uns hat die Schule immer wieder Austauschschüler aufgenommen. Wahrscheinlich lag es an der langjährigen Erfahrung der Schule, dass wir so gut betreut wurden. In der ersten Jahreshälfte hatte man sogar einen Chinesisch-Unterricht für uns organisiert, an dem wir nachmittags teilnehmen konnten.

Jinling Mittelschule_Nanjing_Miguel

Jinling-Mittelschule

Wie haben Deine Klassenkameraden auf Dich, den Ausländer, reagiert?

Anfangs waren sie mir gegenüber sehr scheu und schüchtern. Außerdem haben sie mich vor allem auf Englisch angesprochen. Als mein Chinesisch immer besser wurde, konnte ich immer leichter mit ihnen kommunizieren, und durch meine Pausengespräche habe ich extrem viel über die chinesische Kultur und den Lebensalltag der chinesischen Jugendlichen gelernt. Auch interessant: Das Jungen-Mädchen-Verhältnis ist in der chinesischen Schule sehr viel distanzierter als in Deutschland. Ich habe daher auch nur die Jungs in meiner Klasse wirklich näher kennengelernt.

Was war für Dich das Schwerste an Deinem Austauschjahr?

Ich empfand die Tatsache, dass ich am Anfang so vollkommen ins kalte Wasser geworfen wurde, am schwersten. Als 16-Jähriger in einer ganz fremden Familie zu leben und mit den Eltern keine gemeinsame Sprache zu haben – das war trotz guter Vorbereitung ziemlich krass… hat aber auch dazu geführt, dass ich sehr schnell Chinesisch gelernt habe. Auch das Erlebnis, mit 55 anderen Schülern in einer Klasse zu sitzen und so gut wie nichts zu verstehen, war ziemlich überwältigend. Am Anfang habe ich mich da manchmal richtig verloren gefühlt.

Was vermisst Du an China?

Das Essen. (Lacht.) Das Essen ganz besonders. In Deutschland ist es so schwer, authentische chinesische Gerichte zu finden, und da in China selbst das Essen in jeder Region anders ist, repräsentiert auch eine authentische Speisekarte nur einen extrem kleinen Bruchteil der chinesischen Küche. Das Essen in Nanjing war besonders großartig, und ich vermisse es riesig. Außerdem vermisse ich das Abenteuergefühl des Austauschschüler-Daseins: Immer neue Dinge erleben und die vielen kleinen Erfolgserlebnisse, bei denen man merkt, dass man immer mehr Teil der chinesischen Gesellschaft wird.

Bist Du zufrieden mit der Wahl Deiner Austauschorganisation?

Ja, sehr. Die Organisation, Vorbereitung und Betreuung vor meinem Austauschjahr war super. In China selbst ließ die Qualität etwas nach, da die chinesischen Partnerorganisation im Vergleich zu der deutschen Austauschorganisation etwas niedrigere Standards hat – das ist meines Wissens nach aber nicht nur bei YFU so, sondern auch bei allen anderen Austauschorganisationen. Ich persönlich war ganz zufrieden mit YFU China. Der Orientierungs- und Sprachkurs am Anfang des Jahres war gut, die Betreuung war OK und ein Mittelseminar und Abschlussseminar gab es auch. Zurück in Deutschland gab es dann auch noch eine Nachbereitungstagung. Müsste ich noch einmal wählen, würde ich mich wieder für YFU entscheiden.

Hast Du eigentlich jetzt – vier Jahre nach Deinem Austauschjahr – noch Kontakt zu Deinen Gastfamilien?

Abendessen mit Gastvater und Gastbruder

Abendessen mit der Gastfamilie

Ich habe vor allem Kontakt zu meinem Gastbruder und indirekt über ihn natürlich auch zum Rest der einen Familie. Sehr spannend, weil ich sehen kann, wie mein Gastbruder seit seinem Abitur in China immer reifer wird. Er studiert jetzt in den USA, und seinen E-Mails nach zu urteilen findet er sich von Monat zu Monat besser in der amerikanischen Kultur zurecht. Ich als sein 哥哥 (gēgē) , sein älterer Bruder, kann ihm dabei Tipps geben – das ist ein großartiges Gefühl.

Wie hat Dein Austauschjahr Dich verändert und Deinen weiteren Werdegang beeinflusst?

Ich bin in meinem Austauschjahr sehr gereift. Während des Jahres habe ich das selbst nicht gemerkt, aber sobald ich wieder in Deutschland war, schon. Ich habe auch sehr viel Dinge über mich selbst gelernt und über meine eigene kulturelle Identität. Ich habe gelernt, Dinge anders zu betrachten und vorsichtiger in meinen Bewertungen zu sein. Auch die Materie China beschäftigt mich bis heute sehr stark, weshalb ich mich für ein Studium der Chinastudien an der Freien Universität Berlin entschieden habe. Mein Studium gefällt mir gut, und ich genieße es, mich weiterhin jeden Tag mit meinem Austauschjahr-Land zu beschäftigen. Ich möchte auch gerne während meines Studiums wieder für ein Jahr weg… das Buch China habe ich noch nicht geschlossen und werde es so bald auch nicht tun.

Danke, Miguel, für dieses interessante Gespräch!

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sinonerds-Autor*in

Jana Brokate

Schulbesuch in Beijing, Studentenleben in Guangzhou, Sinologiestudium in Berlin, unterschiedlichste Chinareisen und Projekte mit Chinabezug – Janas Erfahrungen bezüglich dem Land der Mitte sind vielfältig. Ihren Horizont erweitert sie am liebsten mit Sprachenlernen, Reisen und Fragen stellen.

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