China, ein Land, in dem jeder immer Fleisch ist, das keine Gemüsegerichte kennt, in dem Vegetarier ein karges Nischendasein fristen – das wird doch nicht wirklich stimmen? Ich habe die diesjährige Fastenzeit vor Ostern zum Anlass genommen, sechs Wochen kein Fleisch zu essen.
Eine Woche vor Beginn der Fastenzeit: „Wir essen fast nur Fleisch“
„Liebe Yan“, tippe ich, „vielen Dank für die Einladung zum Frühlingsfest, die ich gerne annehme. Allerdings esse ich in der Zeit kein Fleisch… Ist das ein Problem?“
Eine Freundin hat mich zum Frühlingsfest eingeladen. Ich freue mich sehr auf die Reise, doch gibt es da einen Haken: Ich werde es während der Fastenzeit vor Ostern mit der vegetarischen Ernährung versuchen, und diese Zeit beginnt dieses Jahr exakt am Frühlingsfest. Es wird mein erstes Fasten in China sein, was die ganze Sache nicht leichter machen dürfte, denn der Vegetarismus steckt hier noch in den Kinderschuhen. Die wichtigsten Vokabeln für Vegetarier in China sind überschaubar:
素 sù: vegetarisch.
番茄鸡蛋 fānqié jīdàn: Ei mit Tomate; ein allgegenwärtiges, fleischloses Gericht.
„Liebe Charlotte“, antwortet Yan, „es kann ein bisschen schwierig werden, weil es beim Frühlingsfest bei uns fast nur Fleisch gibt. Aber du kannst ja Tofu essen!“
Woche 1: „Isst du Nudeln?“
Kurz nach meiner Ankunft in Yans Heimatort stellen ihre gastfreundlichen Eltern die ersten Fragen zu meinen Essgewohnheiten: „Isst du Rind?“ „Isst du Nudeln?“ „Isst du Darm?“ „Isst du Eier?“ Ich beantworte alles, sehe mich aber doch in der interkulturellen Zwickmühle. Wird es als unhöflich gelten, manche Speisen nicht zu essen? Respektlos gar? Und wie soll ich bloß Yans Großeltern erklären, dass ich es mir leiste, beim Essen wählerisch zu sein? Dass ich mir die Freiheit erlaube, nicht alles zu essen, was mir zur Verfügung stünde?
Doch es kommt anders. Am Frühlingsfest herrscht ein so reges Treiben, dass keine Zeit bleibt, zu beobachten, wer was isst. Und so stibitze ich mir das Gemüse aus Fleischgerichten, freue mich, wenn der angekündigte Tofu aufgetischt wird, und bin nach jeder Mahlzeit absolut gesättigt.
Woche 2: „Es gibt Ei mit Tomate“
Das Frühlingsfest war köstlich, doch nun rufen Alltag und Uni. Zwischen den Vorlesungen bleibt keine Zeit, nach Hause zu fahren und selber zu kochen, also esse ich mittags meist in einem der umliegenden Imbisse. Nach wenigen Tagen lerne ich, mir den Blick auf die Speisekarte zu sparen und direkt zu fragen, welche fleischfreien Optionen es gibt. Die Standardantwort lautet: „Fanqie jidan“, Ei mit Tomate. In den ersten Tagen schmeckt es mir noch recht gut, doch dann merke ich, so überstehe ich die Wochen bis Ostern nicht. Alternativen müssen her.
Woche 3: „Diese Nudeln gibt es nur mit Fleisch“
In der Mensa meiner neuen Uni versuche ich nun mein Glück. Am verlockendsten klingt der fēngwèi 风味-Bereich, der lokale Gerichte verschiedener Regionen anbietet.
Doch was verbirgt sich beispielsweise hinter Yibin-Nudeln? Womit sind die Shandong-Teigtaschen gefüllt? Im Mittagstrubel der Mensa frage ich schließlich, so laut es geht, am Stand der Dandan-Nudeln, ob diese eventuell vegetarisch seien. „Die gibt es nur mit Fleisch!“, lautet die Antwort. „Äh…und ohne?“, hake ich zögernd nach, der Blicke der Umstehenden bewusst. „Nein, aber ich kann die Nudeln mit Ei und Tomate anbieten!“ Um irgendwas zu essen, nehme ich den Vorschlag an.
Woche 4: „Religion ist Luxus“
Voller Freude stelle ich fest, dass das Lokal, in dem meine Freundin Zu Le und ich essen möchten, fleischlose Nudeln anbietet. Zu Le findet diese Wahl ungewöhnlich. „Interessant“, sagt sie, nachdem sie meine Erklärung gehört hat. „Hat Karl Marx nicht gesagt, dass Religion Luxus ist?“ So langsam weiß ich selber nicht mehr, was mich in den Vegetarianismus getrieben hat. War es Religion? Neugier? Experimentierfreude? Zu Le jedenfalls hat sich für die gleichen Nudeln entschieden. Sie nennt es „tǐhuì yīxià 体会一下“, mal ausprobieren, mal die Erfahrung machen.
Woche 5: „Wir haben nichts Vegetarisches“
So allmählich habe ich den Bogen raus. Ich koche mehr zu Hause und wenn ich auswärts esse, weiß ich, wie man sich Ei mit Tomate vom Hals (und der Zunge) hält. Es läuft ganz gut, denke ich zufrieden.
Doch dann verschlägt es mich für ein paar Tage nach Chengdu. Eines Mittags betrete ich ein Lokal und stelle die übliche Frage nach vegetarischen Gerichten. Die Kellnerin lacht. „Wir haben nichts Vegetarisches!“ Wirklich? Aus Neugier hake ich nach: „Auch nicht Ei mit Tomate?“ Sie lacht erneut. „Doch, das haben wir. Möchtest du das?“ „Nein!!“, entfährt es mir entsetzt, dann habe ich meine Fassung zurückgewonnen. „Entschuldigung. Könnte ich Reis mit etwas Gemüse bekommen?“
Woche 6: „Isst du Erdnüsse?“
Nach einigen Tagen Reis mit Gemüse habe ich wieder Lust auf Nudeln. „Kein Problem“, antwortet die Betreiberin eines Lokals auf meine übliche Frage nach vegetarischen Gerichten, „wir haben sùmiàn 素面.“ Wörtlich bedeutet das „vegetarische Nudeln“ und klingt ideal. Als sie das Gericht serviert, folgt die Köchin meinem Blick auf die blanken Nudeln in farbloser Brühe und fragt: „Isst du Erdnüsse?“ „Gerne!“ „Eingelegten Kohl?“ „Den auch.“ Beides mischt sie großzügig in die Nudeln, dazu noch Gewürze. Dann erklärt sie: „Sumian sind einfach nur Nudeln ohne alles. Das schmeckt doch nicht!“
Während ich die nunmehr sehr schmackhaften Nudeln schlürfe, stelle ich fest, dass ich tatsächlich einiges gelernt habe, über China, Essen, Fasten, Menschen. Dass es viel leichter ist, vegetarisch in China zu leben, als mir prophezeit wurde. Und meinen Vegetarier-Wortschatz muss ich wohl auch korrigieren:
素 sù: wörtlich vegetarisch, Synonym für fade.
番茄鸡蛋 fānqié jīdàn: Ei mit Tomate; ein Gericht, das ich für die etwa 320 Tage im Jahr, in denen nicht Fastenzeit ist, voller Freude aus meinem Speiseplan streiche.
Ni ke nadie: wohin gehst Du?
Dieser Gruß könnte nicht besser zu Yunnan passen, denn die bunte Provinz im Südwesten Chinas bietet eine Fülle von Antworten. Zwischen Regenwald im Süden und Steppe im Norden führen ihre Wege zu den verschiedensten Gesichtern, Gerichten und Geschichten.
Seit nunmehr drei Jahren bin ich auf diesen Pfaden unterwegs und meine Begeisterung für Yunnan wächst und wächst. Meine Erkundungen und Erlebnisse teile ich mit euch in meiner Kolumne Ni ke nadie? Pfade durch Yunnan.
Titelbild: Flickrfoto von jpaulhart http://flickr.com/photos/61652362@N00/15978730032 geteilt unter Creative Commons Lizenz (BY-NC-SA). Die restlichen Bilder im Text wurden von Magdalena Giebeler-Degro in Yuányáng 元阳 aufgenommen. Die auf den Fotos abgebildeten Menschen gehören der Hani-Ethnie 哈尼族 (hāní zú) an.