Am 25. November jährte sich der Orange Day, der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Seit 1991 wird weltweit an diesem Tag Frauen gedacht, die Gewalttaten zum Opfer fielen. Meistens findet die Gewaltausübung in den eigenen vier Wänden statt. In China ist das nicht anders. Laut Sun Xiaomei, einer Abgeordneten des Volkskongresses, sind 30 Prozent aller Ehen in China von häuslicher Gewalt betroffen. In 90 Prozent geht der Missbrauch von Männern aus. Mit der Pandemie und den auferlegten Ausgangsbeschränkungen kann vermutet werden, dass häuslichen Gewaltakte zugenommen haben.
China hat erst 2016 sein erstes Gesetz gegen häusliche Gewalt verabschiedet. Vor der Volksrepublik haben bereits 120 Staaten vergleichbare Gesetze erlassen. Das Land hat sich nicht leicht getan, öffentlich anzuerkennen, dass häusliche Gewalt auch im Reich der Mitte ein verbreitetes Problem ist. Das liegt vor allem an der Propagierung bestimmter gesellschaftlicher Ideale auf allen Ebenen der Verwaltung, die wenig Spielraum in der Familienordnung zulassen.
Xi Jinping hat mit seinem Amtsantritt 2013 eher stärker als seine Vorgänger an einer traditionellen Arbeitsverteilung und Ordnung festgehalten, die Ehe und Familienbildung als übergeordnete Ziele erkennen lässt. In der Partnerschaft soll die konfuzianistische Ordnung gelten, in der die Frau nicht nur dem Ehemann, sondern auch dem Sohn und allen männlichen Familienmitgliedern untergeordnet ist. Alternative Rollenverteilungen sind nicht gewünscht, die Frau wird als Hauptverdienerin kategorisch ausgeschlossen. Die demütige, fast unterwürfige Haltung der Frau gegenüber den männlichen Familienmitgliedern im Konfuzianismus schreibt der Frau keine innerfamiliären Rechte zu und setzt sie häuslicher Gewalt machtlos aus.
Der Druck auf Frauen, den die staatliche Propaganda ausübt oder billigt, spiegelt sich in der Gesellschaft wider. Frauen über 27 werden als „left-over women“ 剩女 shengnü bezeichnet. Für dieses Etikett spielt es keine Rolle, ob es sich um Frauen handelt, die erfolgreich Karriere machen und keine Zeit, vielleicht auch kein Interesse haben, Männer kennenzulernen. Die Erwartungen an chinesische Frauen sind extrem hoch, während Männern zugestanden wird, auch in höheren Alter eine Ehe einzugehen. Oft wird der gesellschaftliche Druck durch die Ideale der Eltern ergänzt. Somit ist es nicht verwunderlich, dass kreative Lösungen gefunden werden, die Frauen aus dem elterlichen Anspruch befreien. Partnerverleihbörsen florieren in ganz China und schaffen eine Möglichkeit, mit einem für den Besuch genommenen Partner an Neujahr zu den Eltern zu fahren, um so den besorgten Fragen zu entkommen. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie gefangen sich viele Chinesinnen in dem System sehen.
Angesichts der gesellschaftlichen Spannungen, denen Frauen in China ausgesetzt sind, verwundert es nicht, dass sich im letzten Jahrzehnt mindestens zwei größere feministische Bewegungen gebildet haben. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein.
Nicht-kooperierender Feminismus
Am Valentinstag 2012 spazieren drei junge Frauen durch dicht bevölkerte Straßen in Peking. Sie tragen Brautkleider, die mit Kunstblut verschmiert sind. Ihre Slogans sind laut und deutlich zu hören: „打不是亲。骂不是爱。不要暴力好好爱!“ Schläge sind kein Zeichen von Zuneigung, Schelten ist kein Zeichen der Liebe. Liebe sollte ohne Gewalt sein! Die Worte sind eine Anspielung auf einen bekannten Liedtext 打是亲骂是爱 „Schläge sind ein Zeichen von Zuneigung. Fluchen ein Zeichen von Liebe“ an, der in Streit eine Form von Intimität sieht. Der künstlerische Auftritt erzielt seine Wirkung. Vorbeigehende Passanten sind von dem Schauspiel angezogen. Anerkennung liegt in ihren Blicken. Die Botschaft ist klar erkennbar. Es geht um häusliche Gewalt. Innerhalb weniger Minuten wird die Performance von der Polizei aufgelöst.
Hinter der Aktion standen fünf Aktivistinnen, die als die „Feminist Five“ bekannt geworden sind. Das sind Li Maizi (Li Tingting), Wei Tingting, Zheng Churan, Wu Rongrong und Wang Man. Durch Auftritte versuchen sie gesellschaftskritische Themen anzusprechen: die Rolle der Frau in der Ehe und die Diskriminierung des weiblichen Geschlechts. Andere Formen des Ausdrucks sind ihnen nicht mehr geblieben, seitdem die Regierung 2016 Maßnahmen gegen NGOs und zivile Bewegungen verschärft hat und ihnen weniger Ausdrucksmöglichkeiten lässt.
Zur härtesten Reaktion kam es kurz vor dem Weltfrauentag 2015, als die Feminist Five dazu aufgerufen hatten in Guangzhou, Peking und Hangzhou in U-Bahnhöfen Flyer gegen häusliche Gewalt zu verteilen. Die Aktion wurde kurz vor der Umsetzung gestoppt. Obwohl die Aktion keine konkrete Provokation und Kritik an der Regierung enthielt, kam es zu einer scharfen Reaktion seitens der Polizei. Die Regierung fürchtet eine gute Vernetzung von AktivistInnen, die der Führungsstruktur Schaden zuziehen kann. Erst auf internationalen Druck wurden die Feminist Five einige Wochen später freigelassen.
Frauen, die sich mit dieser Art von Feminismus identifizieren, sind oft mit der männerdominierten Ordnung konfrontiert. Sie stellen sich gegen die auferlegten gesellschaftlichen Pflichten der Frau, den Heiratsdruck und die Rollenverteilung in der Ehe. Aus der herablassenden Bezeichnung shengnü haben sie einen stolzen Begriff geschaffen, indem sie das 剩 sheng durch胜, ein Zeichen mit identischer Betonung, ersetzt haben: aus „Rest“ wurde „Übertreffen“. Frauen, die eine Karriere vorziehen, oder einfach nicht heiraten möchten, werden so als „erfolgreiche Frau“ beschrieben, eine Formulierung ohne negativen Beigeschmack.
Der nicht-kooperierende Feminismus hatte auch in vielen NGOs vor 2016 viele Befürworter. Das prominenteste Beispiel war das Frauenzentrum Zhong-Ze 北京众泽妇女法律咨询服务中心 unter der Leitung der Rechtsanwältin Guo Jinmei, die es bis zur staatlich angeordneten Auflösung das Zentrum leitete. Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt waren, fanden in der Institution Unterstützung. Als Rechtsanwältin ist Guo bekannt Frauen zu vertreten, die durch Gewalttaten gegen ihre Ehemänner angeklagt sind. Zu oft spielen in den Prozessen die Hintergründe der Tat, die alltägliche Gewalt und Bedrohung, keine Rolle. Zhong-Ze und Guo Jinmei verzeichneten mit ihrer Arbeit beachtliche Erfolge und trugen zum Gesetzentwurf gegen häusliche Gewalt bei.
Unternehmerischer Feminismus
Im Gegensatz dazu steht Ayawawa und ihr Ansatz, um mehr Selbstbestimmung zu erreichen. Sie ist die bekannteste Verfechterin der kapitalistischen Auslegung des Feminismus. Mit einer selbst entwickelten Formel verspricht sie ihren Anhängerinnen eine erfolgreiche Ehe. Traditionelle Werte einer Ehefrau, ein demütiges Verhalten und die Unterordnung unter männliche Familienmitglieder lehnt sie ab – stattdessen stellt sie eine hohe Selbstdisziplin und die Maximierung der eigenen Attraktivität in den Vordergrund, um so implizit die Zufriedenheit des Mannes zu erreichen.
Ayawawa leitet ein erfolgreiches Beziehungsberatungsunternehmen. Täglich fragen Frauen nach einer Bewertung ihres Aussehens und hoffen durch Tipps und die Ermittlung ihres „wahren Heiratswertes“ einen Ehemann zu finden. Dieser muss finanziell gut dastehen und soll im Idealfall aus wohlhabenden Verhältnissen stammen. Sogenannte „Phönixmänner“ 凤凰男 fenghuang nan sollten gemieden werden. Männer, die so bezeichnet werden, kommen üblicherweise aus einfachen ländlichen Verhältnissen und haben durch Bildung einen guten Job in der Stadt, und somit den gesellschaftlichen Aufstieg erreicht. Damit geht allerdings einher, dass er seinen Eltern hilft, ihre Lebensgrundlage zu verbessern. Eine zusätzliche finanzielle Verpflichtung außerhalb der eigenen Ehe, sowie die Heirat in eine ärmere Familie wird bei Frauen wie Ayawawa ungern gesehen.
Kann dieser Ansatz als Feminismus bezeichnet werden? Aus westlicher Sicht bestehen deutliche Zweifel an einer vorhandenen feministischen Intention. Während der nicht-kooperierende Feminismus patriarchale Gesellschaftsstrukturen zu durchbrechen versucht, möchten Verfechterinnen einer kapitalistischen Ausrichtung mehr Entscheidungsfreiheit innerhalb der Ehe, um ihre Interessen zu verfolgen.
Die Machtverschiebung kann auch fehlgeleitete Züge annehmen, wie sich an dem Beispiel von Su Xiangmao, einem erfolgreichen IT-Entwickler, erklären lässt. Drangsaliert durch seine Frau Zhai Xinxin, die ihn finanziell ausnahm, stürzte sich Su nach nur 104 Tagen Ehe in den Tod. Seine Frau hatte vor der Ehe viele Bootcamps und Seminare besucht, die ihr helfen sollten, einen Millionär als Ehemann zu finden. Diese abschreckende Geschichte von zwanghafter Suche nach materieller Erfüllung ist ein extremes Beispiel. Leider erlangen Tragödien wie diese viel Bekanntheit und bergen das Risiko einen Schatten auf alle Bemühungen, Gewalt gegen Frauen zu adressieren und eine Gleichstellung der Geschlechter voranzutreiben, zu werfen.
Beide der „feministischen“ Strömungen versuchen ihre Stimme in einer männerdominierten Welt zu finden, und das auf unterschiedliche Weise. Die Hoffnung des nicht-kooperierenden Feminismus, gesellschaftliche Probleme und Diskriminierung anzusprechen und dadurch die Aufmerksamkeit der Politik und der Mitmenschen zu bekommen, besteht. Die Arbeit verlangt ihren Vertreterinnen und Vertretern viel ab. Peking lässt keine Kritik an seiner Politik zu. Dennoch zeigt das Gesetz gegen häusliche Gewalt nicht nur überschneidende Interessen, sondern dass es sich lohnt, gegen Gewalt und Geschlechterdiskriminierung zu kämpfen.
Titelbild Credit: “Orange the world”: International Day for the elimination of violence against women, 25 November 2016 von European External Action Service via flickr, shared under a CC licence.