Dieses Jahr wäre Zhou Zuoren 周作人 130 Jahre alt geworden – Ein Appell zum Lesen der Essays des kleinen Bruders von Lu Xun an die Sinonerds unter Euch, die verzweifelt nach einem geeigneten Einstieg in die moderne chinesische Literatur suchen.
„Früchte, Gemüse und Heilkräuter“ aber auch „Veilchen und Rosen“ finden sich in der chinesischen Literatur. Oder konkreter ausgedrückt: Zu ihnen zählen neureiche Blogger wie Han Han 韓寒, der in seiner Freizeit gerne auch mal Autorennen fährt, oder Literaturnobelpreisträger wie Mo Yan 莫言, dem zuweilen zu große Nähe zur Politik vorgeworfen wird. In einem derart illustren Garten der heutigen chinesischen Literatur kann sich ein Sinonerd leicht verlieren.
Dabei gilt es jedoch nicht zu vergessen, dass sich die spannende Vielfalt, mit der man in den Buchhandlungen der VR China konfrontiert wird, aus dem gedrungenen und zertrampelten Pfad der traditionellen Literatur noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Erst im Laufe der 1920er wurden an etlichen Kreuzungen neue Wegmarken gesetzt, andere Richtungen eingeschlagen und literarische Felder bzw. Gattungen „angelegt“.
Erfreulich ist es da gewiss, dass Zhou Zuoren (1885-1967) sein Essay „Der eigene Garten“ (zìjǐ de yuándì 自己的园地) an einem der ersten Scheidewege schrieb, dem die jungen Literaten gegenüberstanden. Er enthält darüber hinaus einen wichtigen Appell im Hinblick auf die literarische „Artenvielfalt“, gibt Antworten auf die Frage, was Literatur zu leisten hat, und greift die Gefahren und Risiken vorweg, denen sich chinesische Autoren im Laufe der folgenden Jahre ausgesetzt sahen.
Kurzum: Bis zu den überquellenden Ladentischen der Buchhandlungen von heute war es ein langer Weg. In einem gebogenen Raum lässt sich keine gerade Linie ziehen und auch die chinesische Literatur wurde von den historischen Umständen geprägt. Diese Schwierigkeiten treten in den Texten von Zhou Zuoren einleuchtend, wohl strukturiert und sprachlich einfach formuliert hervor. Außerdem spricht er im Text von Blumen und Pflanzen und das ist doch mal was für’n Mai.
Es kann kaum einen besseren chinesischen Schriftsteller als Zhou Zuoren geben, um den Einstieg in die moderne chinesische Literatur zu wagen. Liegt dessen Wirken noch so weit zurück, gilt er dennoch als einer der großen Vertreter des modernen chinesischen Essays. Wir lernen einiges über den Kontext, in dem ein chinesischer Intellektueller seine Texte schrieb, zumal er uns in seiner Prosa schonend und simpel auseinandersetzt, weshalb es notwendig ist, auch über die zwar schönen, aber nichtigen Dinge zu schreiben. Zhou Zuorens Texte finden sich in unzähligen wunderbaren Sammlungen und dennoch steht sein Werk im Schatten jener seines älteren Bruders Lu Xun 鲁迅 (1881-1936).
Als der „Eigene Garten“ von Zhou Zuoren 1922 in der Zeitschrift Chenbao erschien, hatte sich Zhou gerade von einer schweren Krankheit erholt. Der Aufsatz war einer seiner ersten Veröffentlichungen nach seiner Erkrankung. Derweil war sich die Mehrheit der Literaten einig darüber geworden, dass die alte chinesische Gesellschaft reformbedürftig war. Im Hinblick auf die Herangehensweise unterschieden sich die einzelnen Standpunkte jedoch beträchtlich voneinander. Im „Eigenen Garten“ spricht sich Zhou aus Sicht des wohlinformierten, chinesischen Intellektuellen für eine „unabhängige Kunst und einen unsichtbaren Materialismus“ und damit ungewohnt deutlich für eine literarische Diversität aus. Der Text stieß nach seiner Veröffentlichung unter seinen Kollegen jedoch auf Unverständnis und manövrierte ihn unwillkürlich an den Rand des stürmischen intellektuellen Diskurses. Seine Kritiker warfen ihm vor, einer fortschrittlichen Literatur jedwede Geltung und Bedeutung abzusprechen. Er aber schrieb im Grunde lediglich sein ureigenes Bedürfnis nach Ruhe und Eigenständigkeit zu einer Zeit nieder, als es die krisengeschüttelte junge chinesische Republik mit all ihren Heeresführern, die untereinander fortwährend um die Kontrolle des Landes im Clinch lagen, der chinesischen Intelligenzija im Grunde von selbst verbaten, sich in einen Elfenbeinturm zurückzuziehen.
Doch gerade diesen Vorwurf wollte sich Zhou nicht gefallen lassen:
„Dem Herzen zu folgen, Rosengewächse und Veilchen zu pflanzen, trägt dem Einzelnen auf legitime Art und Weise Rechnung. Auch wenn andere fordern, man solle sich seinen Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft klar werden und diesen nachkommen, bin ich dennoch davon überzeugt, dies hiermit ebenfalls zu tun.“
Während sein Bruder Lu Xun indessen im Rahmen einer Neuausrichtung und Erneuerung sämtlicher gesellschaftlicher Bereiche quasi das Manifest einer engagierten Literatur formuliert hatte, deren Maßstab nichts geringeres als die Aufklärung des Menschen selbst war, sah Zhou Zuoren zu diesem Zeitpunkt in der Literatur einen Garten, den er hegen und pflegen wollte.
Als arrivierter Intellektueller, der bereits als Herausgeber einiger Zeitschriften tätig gewesen war, und als „ein Kind“ des neuen Denkens zu gelten hatte, lag ihm die Erneuerungsbewegung sehr am Herzen. Die Gesellschaft brauche nicht nur Nutzpflanzen, wie „Früchte, Gemüse und Heilkräuter“, sondern bedürfe auch dringend der „Rosen und Veilchen“. Zwischen den Zeilen über den Garten beschleicht Leser die dunkle Ahnung, Literatur könne instrumentalisiert werden.
Einige Jahre später wurden seine Befürchtungen bestätigt. Die noch junge moderne Literatur Chinas wurde von den politischen Parteien in Beschlag genommen und für parteipolitische Zwecke eingesetzt. Eine zuvor noch junge, unvoreingenommene Literatur, die von experimentierfreudigen Autoren zu Papier gebracht worden war, wurde eingeschränkt und zur Revolutionären Literatur (gémìng wénxué 革命文学) stilisiert. Das zuvor noch aufgeschlossene, freie und experimentelle Klima, welches in der chinesischen Literatur geherrscht hatte, fuhr zum Ende der 1920er zunehmend „eingleisig“, und im „Garten“ der Literatur wurden nunmehr lediglich Rüben und Nutzpflanzen angebaut. Das Experimentelle, welches man zuvor noch bei den Schriftstellern entdecken konnte, trat zurück.
Belletristik (Veilchen?) musste proletarischer Literatur (Gemüse?) weichen. Getrost darf von einer intellektuellen Dreifelderwirtschaft gesprochen werden. Dessen ungeachtet wurde damit ein Prozess eingeläutet, im Zuge dessen eine Reihe großer Erzähler, wie Mao Dun 茅盾, Lao She 老舍 oder Ding Ling 丁玲, dem literarischen Kanon neuartige bedeutende Romane hinzufügen konnten.
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