Im März 2011 wurde Fukushima zum neuen Tschernobyl. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie schön das Wetter in diesen Tagen in Guangzhou war, als zur gleichen Zeit in Japan die Hölle losbrach. Die übrigen Erinnerungen an diese Tage bestehen aus einem Mosaik unterschiedlichster Eindrücke und Empfindungen: die traurigen Gesichter japanischer Kommilitonen und Freunde, der ständige Check im Internet, um sich über die neuesten Schlagzeilen und die aktuellen Windrichtungen zu informieren (bloß kein Ostwind, bloß kein Ostwind!), die Gerüchte, in den Supermärkten sei das Salz ausverkauft (beruhend auf dem Gerücht, Salz helfe gegen radioaktive Strahlen), die nervösen Witze unter den Studierenden (mit den sich immer wiederholenden Satzteilen wie „grüne Haut“ und „endlich Superman-Kräfte!“) und last but not least – die Spekulationen, ob man im Falle radioaktiver Winde überhaupt aus einer Megastadt wie Guangzhou fliehen könne, wenn doch alle Bewohner gleichzeitig in irgendein Flugzeug hüpfen möchten. Eine Bekannte von mir hielt dem Druck und der Panik ihrer Eltern nicht stand. Sie flog tatsächlich der Vorsicht halber nach Deutschland zurück. Die meisten aber blieben… und wir hatten Glück: China blieb von den tragischen Folgen der Katastrophe im Nachbarland verschont.
Heute, mehr als zwei Jahre nach dem Unglück, möchte ich wissen, inwiefern die Ereignisse von Fukushima Chinas Einstellung zur Kernenergie sowie die Situation der chinesischen Atomkraftwerke und die Sichtweise der lokalen Bevölkerung beeinflusst haben. Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, habe ich mich mit Frau Dr. Eva Sternfeld, Leiterin des “Center for Cultural Studies on Science and Technology in China” an der Technischen Universität Berlin, getroffen. Frau Dr. Sternfeld ist eine auf Umweltgeschichte und chinesische Umweltpolitik spezialisierte Sinologin, die unter anderem im Rahmen der deutsch-chinesischen Entwicklungszusammenarbeit von 2000 bis 2008 ein öffentliches Informations- und Bildungszentrum in Beijing leitete, das dem chinesischen Umweltministerium unterstellt ist. Ihre zahlreichen Publikationen umfassen auch Aufsätze zu Chinas internationaler Energiepolitik und den nationalen Bestrebungen im Bereich Kernenergie.
sinonerds: Frau Dr. Sternfeld, in China nimmt die Zahl der Atomkraftwerke stetig zu. Kann man da schon von einem chinesischen Boom der Kernenergie sprechen?
Eva Sternfeld: Tatsächlich kam es in den letzten zehn Jahren zu einer enormen Zunahme von Atomkraftwerken, und die langfristigen Kernenergie-Pläne, die in China bestehen, können einem nur den Atem verschlagen. Geplante Gigawattzahlen deuten hochgerechnet auf fast 400 Atomkraftwerke hin, die in China zukünftig gebaut werden könnten. Ich bin jedoch etwas skeptisch, ob diese ehrgeizigen Pläne in ihren Ausmaßen tatsächlich so umgesetzt werden können, denn ähnlich wie in Europa haben die Ereignisse von Fukushima auch in China ihre Spuren hinterlassen.
Welche konkreten Auswirkungen hatte die Katastrophe von Fukushima auf die chinesischen Pläne zur Kernenergie?
Zunächst erließ die chinesische Regierung ein Atom-Moratorium, das bis zum Beginn dieses Jahres (2013) anhielt und unter welchem keine neuen Pläne genehmigt oder begonnen worden sind. Zwar sind momentan 17 Atomkraftwerke in Betrieb und ganze 29 Atomkraftwerke in Bau, aber immerhin hat man ganze zwei Jahre lang keine neuen Projekte zugelassen. Dies betrifft vor allem Projekte für Atomkraftwerke im Inland, die vor Fukushima kurz vor der Genehmigung standen. Bisher ist es ja so, dass alle chinesischen Atomkraftwerke in der Nähe der Küste liegen. Die jetzt zurückgestellten Projekte befinden sich am Ufer des Yangtze. Die Bauplätze waren schon vorbereitet. Mit der Katastrophe von Fukushima kam es dann zu einem Stopp dieser Pläne. Die Projekte der Inlands-Atomkraftwerke wurden für den laufenden Fünfjahresplan zurückgestellt und werden vermutlich auch in näherer Zukunft nicht wieder aufgegriffen.
In Deutschland lösen Begriffe wie Atomkraftwerk und Kernenergie bei vielen Menschen eine fast instinktive Ablehnung aus. Ist das in China ähnlich?
Lange Zeit war das auf jeden Fall nicht so. Das hat unter anderem damit zu tun, dass man beim Thema Kernenergie immer den Vergleich zur Kohlekraft gezogen hat. Im Gegensatz zur Kohlekraft galt Kernenergie als sauber und fortschrittlich. Ähnlich wie in Deutschland in den 50er bis 70er Jahren, als man noch alle möglichen Ideen hatte, wie man die Kernenergie friedlich nutzen könnte… zum Beispiel, indem man Autos mit Atomkraft betreibt. In Europa hat sich diese Haltung ja auch erst nach den ersten Unglücken drastisch verändert. China macht da eine ähnliche Entwicklung durch. Bei einer Meinungsumfrage unmittelbar nach Fukushima, bei der etwa 1000 Chinesen befragt wurden, gaben immerhin 62% der Befragten an, dass sie die Kernenergie und den Bau weiterer Atomkraftwerke ablehnen. Als ich vor kurzem in Zhejiang, in der Provinz südlich von Shanghai, in einer ländlichen Gegend unterwegs war, traf ich auf einen Architekten, der mich nach meiner Herkunft fragte. Auf die Information, ich sei Deutsche, reagierte er mit großem Wohlwollen. Deutschland sei super, da die Deutschen aus der Atomkraft aussteigen wollen. Dann beschwerte er sich über das Atomkraftwerk Qinshan, das nur 70 km von Shanghai entfernt liegt und seiner Meinung nach total veraltet und gefährlich ist. Bemerkungen wie diese zeigen, dass sich in China Menschen, vor allen Dingen jene, die selbst in der Nähe von Atomkraftwerken wohnen, zunehmend Gedanken über ihre Situation machen.
Halten Sie die chinesische Bevölkerung ausreichend über den Umfang des nationalen Kernkraftprogramms, inklusive seiner Risiken, informiert?
Vor Fukushima definitiv nein. Damals hat die Regierung nach außen hin lediglich vermittelt, es handele sich bei der Kernkraft um eine saubere Energie – im Gegensatz zur Kohlekraft eben. Man muss sich hier vor Augen führen, dass China ja tatsächlich massive Probleme mit der Kohlekraft hat, angefangen mit der großen Luftverschmutzung bis hin zu den vielen Unfällen in Kohlebergwerken, von denen fast täglich in den Medien berichtet wird. Atomkraft galt im Gegensatz dazu als sicher, da aus der chinesischen Perspektive heraus ja noch keine Menschen in Atomkraftwerken zu Schaden gekommen sind – im Gegensatz zu den Tausenden von Toten in den Kohlebergwerken. Diese Wahrnehmung hat sich aber jetzt mit dem Unglück in Japan drastisch verändert. Zuerst kam die Panik, als man sich in China fragte, ob die Strahlungen aus Japan sich auch auf China ausweiten würden. Als es nicht dazu kam, ging man zur nächsten Frage über, und die chinesischen Medien äußerten zum ersten Mal öffentlich Bedenken und fragten: Was ist denn eigentlich bei uns los? Das war dann meines Wissens nach das erste Mal, dass in der breiten Öffentlichkeit Karten auftauchten, auf denen die chinesischen Atomkraftwerke eingezeichnet waren. Plötzlich konnten die Leute sehen, dass gar nicht weit von ihren Wohnorten entfernt Atomkraftwerke standen oder welche geplant sind. Normalerweise erfährt der Bürger ja gar nicht, dass in seiner Nähe ein Atomkraftwerk gebaut wird… irgendwann rücken eben die Bagger an. Beim geplanten Inlands-Atomkraftwerk Pengze in der Provinz Jiangsu haben chinesische Fernsehteams einmal Bauern in einem nahegelegenen Dorf interviewt und herausgefunden, dass diese gar nicht wussten, was genau am anderen Ufer des Yangtze gebaut werden soll, sondern nur über die Existenz einer großen Baustelle informiert waren. Als die Anwohner im Zuge der Umweltverträglichkeitsprüfung, die es inzwischen bei solchen Großprojekten gibt, um ihre Zustimmung zu dem Projekt befragt wurden, hatte man ihnen eine Packung Waschpulver angeboten, wenn sie auf dem Befragungsbogen das „richtige“ Kreuzchen machen. Der wahre Inhalt dieses Bogens war vielen Befragten gar nicht bewusst. Diese Geschichte ist in den chinesischen Medien publiziert worden, und es scheint, als sei die Bevölkerung inzwischen sehr hellhörig geworden, wenn es um Atomenergieprojekte geht. Vor ein paar Monaten kam es beispielsweise in Guangdong zu großen Protesten, als in einer Stadt der geplante Bau einer Brennstäbefabrik bekannt wurde. Die Menschen sind sofort auf die Straße gegangen, und das Projekt wurde vorerst stillgelegt.
Gibt es in China inzwischen so etwas wie eine Anti-Atombewegung?
Mir ist nicht bewusst, dass es in China so etwas wie eine breite Anti-Atombewegung gibt. Wer genau hinsieht, wird allerdings feststellen, wie gut organisiert Proteste zu diesem Thema inzwischen sind. Die ganzen Plakate und Banner der Demonstrierenden in Guangdong zeugen von einer guten Vorbereitung. Oft geht es in Demonstrationen wie einer solchen auch darum, dass man eine neue Lebensqualität einfordert, die sich nicht mehr hauptsächlich am nationalen Wirtschaftswachstum orientiert. Eine sehr aktive Anti-Atombewegung gibt es in Taiwan. Dort ist die Bewegung nach Fukushima erstarkt und die Tatsache, dass bei den Protesten in Guangdong zum Teil ähnliche Symbole und Parolen wie in Taiwan verwendet wurden, deutet darauf hin, dass es in den Zeiten des Internets auch bei diesem Thema einen vermehrten Austausch gibt.
Wie schätzen Sie die Sicherheit chinesischer Atomkraftwerke ein?
Nun, ich selbst bin nie in einem chinesischen Atomkraftwerk gewesen und besitze auch nicht die technische Ausbildung, dies einzuschätzen, deshalb kann ich mich nur auf die diesbezügliche Literatur verlassen. Da China eng mit internationalen Atombehörden zusammenarbeitet und die meisten chinesischen Atomkraftwerke in den letzten zehn Jahren gebaut wurden, die deshalb vermutlich mit sehr moderner Technologie ausgerüstet sind, gibt es für mich keinen Grund, ihren Sicherheitsstandards nicht zu vertrauen… so wie ich den chinesischen Flughäfen zum Beispiel ja auch vertraue. Nur zwei der chinesischen Atomkraftwerke sind schon älter und wurden in den 90er Jahren gebaut: das schon erwähnte Qinshan-Atomkraftwerk in der Nähe von Shanghai und ein weiteres in der Nähe von Hongkong. Letzten Endes gibt es aber noch das menschliche Versagen. Als es vor zwei Jahren in China zu dem Zugunglück kam, bei dem zwei Hochgeschwindigkeitszüge aufeinander geprallt sind, hat man sehr schnell Parallelen zu den Atomkraftwerken gezogen. Die Diskussion zum Unfall beinhaltete Stimmen, die meinten, dass die Entwicklung mit den Hochgeschwindigkeitszügen viel zu schnell verlaufen sei und dass zu viel neue Technik involviert gewesen sei, die man nicht schnell genug einer ausreichenden Anzahl von Technikern vermitteln konnte. China wolle immer das Beste auf der Welt und kaufe überall gleichzeitig ein. Am Ende hätten sie dann je eine Zugversion, die dem ICE, eine, die dem Shinkansen und eine, die dem TGV ähnelt. Ähnliches passiert bei den Atomkraftwerken. Die Chinesen haben russische und kanadische Atomkraftwerke sowie französische und amerikanische Technologie gekauft und zudem noch Lizenzen erworben, auf deren Basis sie eigene Technologien entwickelten. Das kann unter Umständen natürlich auch schief gehen. Was passiert beispielsweise, wenn man in einem Atomkraftwerk einmal nicht genug Leute hat und die Leute aus den anderen Atomkraftwerken nicht aushelfen können, weil sie in einer ganz anderen Technologie ausgebildet wurden? Das können dann auch ganz schnell ganz simple Dinge sein, wie die Frage, welchen Knopf man gerade drücken muss. Ganz so wie Windows-Nutzer Probleme damit haben können, einen Apple zu bedienen. Man muss eben wissen, wie es funktioniert. Von der finanziellen Perspektive her könnte China sofort hunderte Atomkraftwerke bauen, aber man braucht auch Zeit, um genügend Fachpersonal auszubilden. Fehlendes Fachpersonal kann ein wichtiger Sicherheitsaspekt sein. Das menschliche Versagen eben.
China gilt inzwischen als der größte Stromverbraucher der Welt. Kann sich das Land den Verzicht auf Kernenergie überhaupt leisten?
Ich bin der Meinung, dass der Verzicht auf Kernenergie für China vom Prinzip her einfacher ist als für Deutschland, da China im Moment nur einen kleinen Bruchteil seiner landesweiten Energieversorgung aus der Kernkraft speist. Der Anteil der Kernenergie liegt lediglich bei etwa 2%, während mehr als 80% der Energie mit Hilfe von Kohle produziert wird und der Rest vornehmlich durch Wasser und Wind. Das Problem ist aber, dass die Alternative zur Kernkraft momentan vor allem die Kohlekraft, samt ihrer Negativfolgen für die Luftqualität und Klimabilanz, ist. Eine weitere Alternative stellt die Wasserkraft dar, die seit dem Rückgang der Kernenergiepläne nach Fukushima bereits stärker gefördert wird. Meine Recherchen haben ergeben, dass in Yunnan, Tibet und Sichuan gigantische Staudämme am Oberlauf großer Flüsse, wie dem Yangtze, dem Mekong und dem Nujiang gebaut werden sollen. Auch wenn die neuen Staudämme nur halb so groß werden wie der Drei-Schluchten-Staudamm, der größte Staudamm der Welt, so handelt es sich doch immer noch um gigantische Betonklötze, die da in die Natur gestellt werden. Am Jinsha-Fluss, dem Oberlauf des Yangtze, wird man dann zukünftig alle 100 Kilometer einen Großstaudamm haben. Das hat natürlich gravierende Auswirkungen auf das gesamte Ökosystem. Außerdem müssen einmal wieder tausende Menschen umgesiedelt werden. Die beste Alternative wäre sicherlich, in Energieeffienz, saubere Kohleenergie sowie in die erneuerbaren Energien wie Wind und Sonnenenergie zu investieren. Langfristig ist die chinesische Regierung vor allem bestrebt, ihre Abhängigkeit von der Kohle zu verringern. Dies soll vor allem durch Förderung von Wind- und der Kernenergie erreicht werden. Man kann davon ausgehen, dass die Förderung der Kernenergie langfristig wieder eine größere Rolle einnehmen wird. Interessanterweise wird die Sonnenenergie kaum in Betracht gezogen, obwohl China weltweit der größte Exporteur von Solaranlagen ist.