Der Erfolg des neuen Horror-Spiels eines taiwanischen Computerspieleentwicklers war bisher von kurzer Dauer – der Skandal um einen magischen Talisman, geschmückt mit einem Witz auf Kosten des chinesischen Präsidenten Xi Jinping, führte zum Verschwinden des Spiels von der Gaming-Plattform Steam. Sinonerd Karo hat sich das Spiel zum Glück rechtzeitig besorgt und es für euch getestet.
Der taiwanische Spieleentwickler Red Candle Games (赤烛游戏) sorgte schon 2017 für Aufmerksamkeit in der Spielewelt mit der Veröffentlichung seines Debuts „Detention“ (返校). Das düstere, narrative Horrorspiel versetzt Spieler*innen ins vom Kriegsrecht unter der Kuomintang geprägte Taiwan der 1960er Jahre. Dieses ungewöhnliche Setting und die ebenso eigenartige Gestaltung und spannende Handlung des Spiels begeisterten mich damals ziemlich und so behielt ich Red Candle Games im Auge und hoffte gespannt auf Nachschub. Dieser kam dann am 19. Februar 2019 in Form von „Devotion“ (還願), welches die alptraumhafte Geschichte einer dreiköpfigen Familie in den 80er Jahren erzählt. Glück für mich, dass ich das Spiel bereits erwartete, denn wer es spielen wollte, musste schnell sein – nur wenige Tage nach Erscheinen wurde Devotion von Steam, der größten Verkaufsplattform für Computerspiele, entfernt und ist bis heute, hoffentlich nur vorübergehend, nicht erhältlich.
Was ist da passiert? Zwei Tage nach Erscheinen wurde auf einem magischen Talisman, einem sogenannten shenfu (神符), ein Stempel mit den Worten „Xi Jinping“ und „Winnie Puuh“ im Spiel entdeckt, was als eine Anspielung auf den mittlerweile berüchtigten Vergleich des chinesischen Staatspräsidenten mit der Disney-Figur aufgefasst wurde. Nachdem die Rezensionen zu Devotion auf Steam bis zu diesem Zeitpunkt überwiegend positiv ausfielen, wurde es nun mit negativen Kritiken überhäuft: Ein Fall von sogenanntem „review bombing“. Gleichzeitig tauchten gefälschte Statements von Red Candle Games online auf und übereifrige Kommentator*innen fanden mehr und mehr vermeintliche Anspielungen und Beleidigungen in Hintergrunddetails und Namensgebungen der Charaktere. In einem offiziellen Statement betonen Red Candle Games, das anstößige Element sei das Werk eines ihrer Grafiker und lediglich ein Platzhalter gewesen, dessen Anwesenheit nicht allgemein bekannt gewesen sei und der eigentlich vor Erscheinen des Spiels ausgetauscht werden sollte.
Und doch ließ sich ein gewisser Domino-Effekt nicht mehr aufhalten. Weder die Übernahme der Verantwortung für die Winnie-Puuh-Anspielung, noch die Bitte an Spieler*innen, Ruhe zu bewahren und nicht zu viel in das Spiel hineinzuinterpretieren, konnten Abhilfe schaffen. Auch wenn die besagte Grafik bereits wenige Stunden nach Bekanntwerden ausgetauscht wurde, wurde das Spiel, die dazugehörigen Foren auf Steam und der Weibo-Account von Red Candle Games in China gesperrt. Die beiden chinesischen Herausgeber des Spiels kündigten ihre Zusammenarbeit auf und chinesische Spieler*innen forderten ihr Geld zurück. Kurz darauf wurde das Spiel dann auch international von Steam entfernt, angeblich zur ausführlichen Überprüfung des Inhalts auf potenzielle weitere problematische Elemente sowie zur Klärung von Urheberrechtsfragen durch den Wechsel des Herausgebers.
Als ich diesen Artikel schreibe, ist das Spiel selbst und auch sein offizieller Trailer seit einer Woche schon nicht mehr erhältlich. Gleichzeitig häufen sich Artikel, Rezensionen und Let’s Plays auf YouTube, in denen YouTuber komplette Spiele für ihr Publikum spielen. Die Kommentarspalten in Gaming-Foren füllen sich. Ob es sich bei dem verunglimpfenden Talisman nun um eine absichtliche Spitze gegen die chinesische Regierung, einen Streich eines einzelnen Grafikers oder tatsächlich um ein Versehen handelte, sei dahingestellt. Das Spiel hat nun den Ruf, politisch anrüchig zu sein und Interpretationen seines Inhalts nehmen teilweise verschwörungstheoretische Ausmaße an. So wurde zum Beispiel auch in der Erwähnung eines gewissen Baozi in einer herumliegenden Zeitung im Spiel eine Anspielung auf Xi Jinping vermutet. Später stellte sich heraus, dass es sich bei Baozi auch um den Spitznamen eines Mitglieds von Red Candle Games handelt.
Worum es eigentlich gehen sollte: Das Spiel selbst
Glücklicherweise gibt es dennoch auch eine Auseinandersetzung mit dem, worum es nach dem wiederholten, schon fast verzweifelt anmutenden Plädoyer von Red Candle Games eigentlich gehen soll: dem Spiel selbst. Sicher ist eine politische Lesart von Handlung, Design, Stimmung und Details möglich. Doch Devotion beschäftigt sich – wie auch schon sein Vorgänger Detention – in erster Linie mit den zutiefst (zwischen-)menschlichen Abgründen von Schuld, Verlust, und Trauer. Dies geschieht in Form eines Einblicks in das Leben einer Familie, deren zunächst ganz alltägliche Probleme ihr Zusammenleben in einen entsetzlichen Albtraum verwandeln.
Der Protagonist, der erfolglose Drehbuchautor Du Feng Yu, lebt mit seiner Ehefrau Gong Li Fang, einer ehemals berühmten Sängerin, und ihrer gemeinsamen Tochter Du Mei Shin zusammen, deren Traum es ist, ein Star wie ihre Mutter zu werden. Schon früh wird deutlich, dass das Schicksal besonders der kleinen Mei Shin nicht wohlgesonnen ist. Plötzlich finden wir uns als Spieler*innen in verschiedenen Versionen der Wohnung der drei wieder, die wir zu unterschiedlichen Zeiten betreten und in der sich zunehmend merkwürdige Dinge abspielen. Was hat es mit einer Erkrankung Mei Shins auf sich, aus der sich eine ganze Reihe von Ärzt*innen keinen Reim machen kann? Was wurde aus Mei Shins Traum? Warum werden wir von einer geisterhaften Gong Li Fang heimgesucht?
Nach und nach fügen sich die Puzzleteile aus schönen, tragischen und schließlich mehr und mehr absurden Erinnerungen zusammen und zeichnen Ereignisse nach, an denen nicht nur die Familie, sondern auch der Protagonist selbst zerbricht. Ohne zu viel über die Handlung verraten zu wollen: Das Spiel wirft letztendlich einen überzeugenden Blick auf die dunklen Seiten religiöser Aufopferung, auf den Umgang mit Krankheit und Leid, auf Eltern-Kind-Beziehungen und Geschlechterrollen. Obwohl das Spiel ein paar ziemlich furchterregende Momente für Spieler*innen bereithält, ist es vor allem die Tragik dieser Themen und die bedrückende Atmosphäre, mit denen das „psychologische Horrorspiel“ seinen Bann entfaltet.
Der echte Star des Spiels
Echter Star ist jedoch für mich und viele taiwanische Spieler*innen das Setting. Der größte Teil der Handlung spielt sich innerhalb derselben Wohnung und dem dazugehörigen Treppenhaus ab, die sich aber im Laufe der Zeit stark verändern. Jeder Gegenstand, jedes Möbelstück, jedes Foto an der Wand und sogar das Essen auf dem Tisch machen einen Ausschnitt taiwanischer Vergangenheit lebendig, sogar für Spieler*innen, die diese selbst nicht erlebt haben. Auch die ersten Rezensionen auf Steam, zurzeit nicht sichtbar, loben die gefühlte Authentizität der Umgebung und der beliebte taiwanische Gaming-YouTuber Kouki verbringt die ersten Minuten des Spiels in ungläubigem Staunen, um schließlich auszurufen: „Das ist ja wie eine Simulation der Wohnung meiner Oma!“ Dies macht auch für mich einen großen Teil der Faszination des Spiels aus, denn es wirkt biografisch, ethnografisch in seiner Detailtreue und steht in scharfem Kontrast zu den üblicheren Darstellungen ostasiatischer Fantasy- oder Sci-Fi-Umgebungen.
Wie auch schon sein Vorgänger Detention spielt Devotion mit verschiedenen visuellen Mitteln, und hier auch weitaus aufwändiger. Im späteren Verlauf des Spiels befinden wir uns für eine kurze Zeit plötzlich in der Welt eines Kinderbuchs wieder, welches wunderschön und farbenfroh animiert eine kurze Erholung von der düsteren Realität verschafft, nur um bald danach in eine groteske und visuell psychedelisch-verfremdete Unterwelt transportiert zu werden. Auch anderswo wird der hohe Produktionsaufwand deutlich. Zentrales Element in der Rekonstruktion der Ereignisse ist eine Talentshow, die auf dem alten Fernseher in der Wohnung läuft und welche eigens für Devotion gedreht wurde. Der Song, der immer wieder eine Rolle spielt, „Lady of the Pier“ (码头姑娘), klingt wie ein alter chinesischer Schlager, wurde aber für das Spiel geschrieben und produziert. Ein weiteres überzeugendes Upgrade im Vergleich zum Vorgänger ist die Einbettung von gesprochenen Dialogen, sowie eine wesentlich klarere Übersetzung der Untertitel und des restlichen Textinhalts ins Englische.
Ganz genregetreu geht es bei diesem Adventure-Horror-Game nicht um actiongeladene Kämpfe und auch Fans von kniffligen Rätseln kommen hier eher nicht auf ihre Kosten. Nur selten treiben tatsächlich klassische Spielmechaniken oder Minispiele die Handlung voran. Zumeist geht es darum, den Hauptcharakter und in einigen Situationen auch Mei Shin durch die Handlung zu führen und die Geschichte aus ihrer Perspektive mitzuerleben. Das stört jedoch nicht, denn die gut geschriebene, manchmal verstörende aber dennoch feinfühlige Story ist gerade das Herzstück des Spiels. Die realistische und zugleich verfremdete Umgebung, düster und aufgeladen mit Nostalgie und einer Prise Mystik, sorgt für eine packende Gesamterfahrung. Sollte das Spiel bald wieder erhältlich sein, sei es all jenen empfohlen, die dem Horrorgenre, aber auch narrativen Spielkonzepten und mit Liebe gestalteten Spielwelten etwas abgewinnen können. Notfalls in freundlicher Gesellschaft zur Abschwächung des durchaus vorhandenen Schreck- und Gruselfaktors. Bis dahin könnt ihr euch am im Vergleich noch etwas ungeschliffenen, aber auf ähnliche Art glänzenden Detention probieren.
Die Rechte aller verwendeten Bilder liegen bei Red Candle Games.