Im ersten Artikel unseres spotlights zeigt Johannes, was Handys in China möglich machen und warum chinesische Apps ihre westlichen Cousins meilenweit abhängen. Im Hintergrund wird die digitale Welt zwar streng reguliert, das Gefühl der unbegrenzten Möglichkeiten überwiegt jedoch klar.
Shoppingzentrum, Spielekonsole, Statussymbol und sozialer Treffpunkt #1, außerdem Stadtkarte, Puderdose, Fernseher und Geldbeutel. Was auch nach dem Wunschtraum deutscher Startup-Szene klingen könnte, ist in China bereits Realität für Menschen auch weit jenseits der Dreißig. Viele chinesische Handynutzer sind offen für Innovationen und werden belohnt mit einer Explosion erstklassiger Apps, die das Leben erleichtern – und teilweise dramatisch verändern.
Chinesische Apps von links oben nach rechts unten:
微博 wēibó
快手 kuàishǒu
微信 wēixìn WeChat
百度地图 bǎidù dìtǔ Baidu Maps
Ofo (小黄车)
滴滴出行 dīdi chūxíng
大众点评 dàzhòng diǎnpǐng
美团 měituán
探探 tàntan
淘宝 táobǎo
支付宝 zhīfùbǎo Alipay
知乎 zhīhu
Nicht nur anders, sondern besser
In der Grafik vergleiche ich populäre Apps, die für mich als Benutzer einen ähnlichen Zweck erfüllen. Dabei wäre es allerdings verkehrt, vom “chinesischen Facebook/Google/Amazon” zu sprechen, denn in Wirklichkeit gibt es zwei wichtige Unterschiede. Erstens verlaufen die Grenzen zwischen Apps anders: so bewerte ich als Nutzer von 大众点评 (dàzhòng diǎnpǐng) Restaurants, ähnlich wie in Europa bei Yelp; ich kann aber über die App auch einen Tisch reservieren, direkt bestellen oder mir das Essen liefern lassen. Oft gibt es sogar spezielle Menüs mit ordentlichem Rabatt. Das macht es schwer, einen direkten Vergleich zwischen den Angeboten zu ziehen. Auf Unternehmensseite unterscheiden sich die Apps auch in ihren Geschäftsmodellen. Während Amazon etwa wie ein Laden online Produkte verkauft, tritt Taobao selbst nicht als Händler auf. Natürlich haben beide eine zentrale Gemeinsamkeit: ganz egal was ich kaufen möchte, die Online-Giganten sind immer geöffnet und haben alles da.
Den zweiten Unterschied sehe ich darin, dass sowohl Angebot als auch die Relevanz in der Gesellschaft über das hinausgehen, was ich aus Deutschland kenne. Am deutlichsten wird das in China an der Kasse in jedem Restaurant, Laden oder Imbiss. Mobiles Bezahlen über “Wallet Apps” ist in Deutschland im Jahr 2017 noch seltener als passendes Kleingeld. In China ist das Bezahlen per Handy ein hart umkämpfter Markt, um den sich Alibabas Alipay und Tencents WeChat Pay streiten. Beide Dienste werden wie Paypal mit einem Bankkonto verbunden, von dem direkt abgebucht oder Guthaben auf das App-Konto geladen werden kann. Wer sein Geld nicht ungenutzt auf Alipay liegen lassen möchte, kann es auch direkt in der App anlegen, um täglich Zinsen einzustreichen. Strukturelle Entwicklungen dieser Art verändern das Kundenverhalten und schaffen neue Möglichkeiten in der digitalen Landschaft.
Das einfache Bezahlen mit dem Smartphone ermöglichte unter anderem den Fahrdienst Didi Chuxing, der im letzten Jahr die chinesische Expansion von Uber schluckte. In diesem Jahr folgte dann die nächste Revolution auf zwei Rädern in Form der Leihfahrräder von Ofo, Mobike und einer ganzen Armada weiterer Firmen. Diese Entwicklung betrifft Deutsche direkt, denn Ofo und Mobike expandieren nun – mit einigen Startschwierigkeiten – nach Europa und mischen den Markt hier auf.
Per App zur chinesischen Gesellschaft
Mehr Menschen aller Altersgruppen am Handy und schnelle Verbreitung von Smartphones: vielleicht wurden deshalb viel früher als in Deutschland SMS zunehmend durch Nachrichten-Apps ersetzt und Smartphones ein wichtiges Werkzeug. Der beliebteste Messenger war seit 1999 die App QQ, die auch heute noch als die drittgrößte Social-Media-Plattform existiert. Als ich 2009 in China war, schrillten die markanten vier Piepser der Pinguin-App aus allen Ecken. Als Blog- und E-Mail-Dienst ist QQ weiterhin beliebt, als Messenger wurde es dennoch 2011 auf den meisten Smartphones von WeChat (微信) abgelöst, das schnöden Text durch knackige Sprachnachrichten ersetzte. Auch der Konkurrent war interessanterweise ein Programm der Firma Tencent (腾讯), die auch eine der großen Micro-Blogging Seiten Tencent Weibo betreibt.
Als nächstes setzte sich WeChat gegen den Facebook-Klon 人人网 (rénrénwǎng) durch. Essensfotos, Urlaubsselfies und Babybilder werden direkt in der App in den Newsfeed von Freunden im “Freundeskreis” (朋友圈) geschoben. Für viele ChinesInnen ist der Freundeskreis gleichzeitig auch die wichtigste Nachrichtenquelle. Blogger, Firmen und andere Organisationen richten offizielle Accounts ein und halten über diesen Kanal ihre Follower auf dem Laufenden.
Aber WeChat reicht viel weiter und kann auch in der wirklichen Welt alle vorstellbaren Hebel umlegen: ob ein Taxi rufen mit 滴滴出行 (dīdi chūxíng) oder eine Restaurantreservierung mit 大众点评, viele der populärsten Apps sind in WeChat integriert. Die coolste Anwendung, die ich kenne, ist das Bestellen und Bezahlen im Café per QR-Code. Sobald der QR-Code auf dem eigenen Tisch gescannt wird, öffnet sich eine digitale Speisekarte, auf der bestellt werden kann. Nur das Servieren übernimmt dann die Bedienung. Und bezahlt wird natürlich auch per WeChat Pay durch ein erneutes Scannen des QR-Codes.
Um öffentlich mit einem größeren Publikum zu kommunizieren, nutzen junge ChinesInnen, Stars und Unternehmen zeichenbeschränkte Micro-Blogs wie Sina 微博, die oft mit Twitter verglichen werden. Selbst mit 140 Schriftzeichen ließen sich jedoch auf Chinesisch kleine Aufsätze schreiben, die weit über die minimalistischen Nachrichten auf Twitter hinausgehen. Die Toleranzschwelle für lange Texte liegt bei ChinesInnen offenbar höher, denn letztes Jahr wurde auch dieses Limit aufgehoben. Eingebundene Bilder und Videos geben zusätzlichen Spielraum und machen 微博 zu einer wichtigen Quelle von Memes, Produktinformationen, Klatsch und Tratsch sowie (Fake-)News. Auch die deutsche Fußballnationalmannschaft hat einen offiziellen Account, der natürlich auf Chinesisch postet.
Just another day in paradise
Ist China ein Paradies für App-Nutzer? Im wahrsten Sinne der Analogie: ja, denn eine höhere Macht bestimmt die Regeln des Konsums. Die “Great Firewall of China” blockiert unliebsame Messenger wie WhatsApp und Social-Media-Apps wie Facebook und Pinterest. Ebenso schränkt die chinesische Zensurbehörde die App Stores an sich ein. Der Google Play Store ist ebenso wie die meisten anderen Google Services nicht zu erreichen. Apple entfernt kritische Programme aus seinem iOS-Store, ein Vorgehen, das erst vor kurzem alle VPN Clients traf und in Europa und den USA kritisiert wurde.
Es gibt die unterschiedlichsten Beweggründe, die aus Sicht der chinesischen Regierung für eine Indizierung sprechen könnten. Einige der wichtigsten sind wohl politische Kontrolle der Kommunikations- und Informationsmedien, wirtschaftlicher Protektionismus gegenüber ausländischer Silicon-Valley-Giganten sowie konservativer Reaktionismus auf soziale Entwicklungen.
Die zunehmende Schärfe der Zensurbehörden traf im letzten Jahr unter anderem Live-Streaming-Dienste, da auf diesen potentiell politische oder erotische Streams angeboten wurden, und eine von vielen Dating-Apps für Homosexuelle. Nicht nur Apps an sich, sondern auch die Inhalte werden zum Schutz der Gesellschaft vor dem “Zuschaustellen luxuriösen Lebenstils, Gewalt, Obszönität und abnormalen sexuellen Verhaltens” gelöscht. Die Zensur nahm vor einigen Jahren absurderweise ein witziges Meme aufs Korn, das ein Foto der Präsidenten Obama und Xi mit einer süßen Zeichnung von Winnie the Pooh und Tigger verglich. Sie traf aber auch Nachrichten über den Tod von Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo.
Wie gehen chinesische NutzerInnen mit diesen Einschränkungen um? In meinem Freundeskreis in erster Linie mit genervten Posts und einem Achselzucken. Wie kritische Datenverwendungsrichtlinien, Spam und Passwort-Leaks überall auf der Welt gehört die Zensur für sie in China zu den weniger schönen Seiten des Internets, die mitunter ärgerlich, aber für den Einzelnen scheinbar nicht zu ändern sind. Klar bin ich angefressen, wenn großartige Memes “weg-harmonisiert” werden, nachdem ich sie geteilt habe. Aber meine Freunde haben sie dann ja oft schon gesehen. Im Prinzip ist es natürlich auch blöd, keinen Zugriff auf Facebook zu haben. Aber meine Bekannten sind ja sowieso bei WeChat und Weibo.
Niemand in meinem persönlichen Freundeskreis würde für die strengen Richtlinien der Zensur eine Lanze brechen. Viele finden sie altmodisch und naiv. Einige haben Schwierigkeiten mit ihren ausländischen Freunden in Kontakt zu bleiben, andere wünschen sich zuverlässigen Zugang zu Nachrichten und Informationen. Für die meisten spielt staatliche Zensur allerdings im Alltag schlicht keine Rolle.
Nicht ohne meinen Zauberstab
Ganz im Gegensatz dazu sind im Alltag zwei Arten von Apps besonders wichtig: Beauty Apps und Handyspiele. Jedes Selfie auf Weibo durchläuft einen komplexeren Prozess als ein Vogue-Cover. Da wäre zuerst das Foto, zum Einstieg natürlich mit passendem Filter. Danach werden harte Geschütze aufgefahren: 美图秀秀 (měitúxiùxiu) oder die koreanisch-japanische App B612. Glitzereffekte, Hundeohren, die Augen ein bisschen größer, die Wangen ein wenig schmaler, Unreinheiten verwischen und die Haut einen Ticken blasser – dieses Standardprogramm läuft manuell oder sogar automatisch ab.
Ich für meinen Teil habe mehr Spaß mit dem neuen Trendspiel 王者荣耀 (wángzhěróngyào, englisch: King of Glory), das das in China beliebte PC-Spiel League of Legends auf’s Smartphone bringt. Der Clou ist dabei die riesige Auswahl an (kaufbaren) Helden aus der chinesischen und europäischen Mythologie, Literatur und Popkultur. Zur Zeit spiele ich König Artus oder Sun Wukong, den König der Affen aus der Reise in den Westen, aber auch den Tang-Poeten Li Bai würde ich gerne ausprobieren. Die hübsche grafische Gestaltung von geschichtsträchtigen Charakteren habe ich auch bei 阴阳师 (yīnyàngsshī) gesehen, dort allerdings mit wunderschönen Figuren aus der japanischen Mythologie.
Der durchschlagende Erfolg von Spielen aus chinesischen Entwicklungsstudios war auch in China eine Überraschung und führt mich direkt zur Frage, ob und wann auch Deutsche auf ihren Handys ganz selbstverständlich in China entwickelte Apps verwenden. Rossmann akzeptiert seit April diesen Jahres Alipay zur Bezahlung in allen deutschen Geschäften, um chinesischen Kunden das Einkaufen zu erleichtern.
Vielleicht wird dann auch für deutsche Handynutzer bald das Leben ein bisschen einfacher. Eine Chat-Funktion für Amazon und mobiles Bezahlen würden sofort den Weg auf mein Handy finden. Ich würde mich auch freuen, wenn deutsche Entwickler einen Blick auf ihre chinesischen Pendants werfen und sich die eine oder andere Funktion abschauen. Auf die Zensur und Blocks der Great Firewall würde ich allerdings lieber verzichten, da darf die deutsche Politik sich gerne ein anderes Vorbild suchen.
Titelbild © Jasmin Oertel für sinonerds.