Wohin, Hongkong? Im Gespräch mit Prof. Eberhard Sandschneider

Ein Land, zwei Systeme, viele Fragen – die Unzufriedenheit in Hongkong ist nicht zu übersehen

Seit Juni protestieren zehntausende Hongkonger für mehr demokratische Rechte. Seitdem gab es bereits mehrere Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Chaoting hat mit Prof. Dr. Eberhard Sandschneider, einem Experten für die Politik Chinas von der Freien Universität Berlin, über die Proteste gesprochen – und dabei auch gefragt, was von China als globaler Akteur zu erwarten ist.

sinonerds: Wie beurteilen Sie die laufenden Proteste in Hongkong und wie schätzen Sie das Risiko einer Eskalation ein? 

Prof. Dr. Eberhard Sandschneider: Fragen nationaler Souveränität sind für die chinesische Regierung immer Fragen höchster Priorität. Im Augenblick überlässt sie die Verantwortung für den Umgang mit diesen Demonstrationen den lokalen Behörden in Hongkong. Im Notfall, also falls die lokalen Behörden nicht in der Lage sind, mit der Situation erfolgreich umzugehen, muss man sicherlich damit rechnen, dass Peking weitere Schritte in Kauf nimmt. Dagegen steht der drohende Imageverlust, den die chinesische Regierung derzeit in Anbetracht der sonstigen Konflikte, insbesondere mit den USA, überhaupt nicht gebrauchen kann. Eine Garantie, dass Peking nicht eingreift, gibt es natürlich nicht. Im Ernstfall haben Fragen im Zusammenhang mit Souveränität immer Priorität. 

Was ist der Kern der Auseinandersetzung?

Der Grundkonflikt besteht darin, dass die Menschen in Hongkong vor 22 Jahren nicht gefragt worden sind, wie sie sich die Zukunft ihrer Stadt vorstellen. Es fanden Verhandlungen zwischen London und Peking statt, die zu einem relativ unüblichen Ergebnis geführt haben: die sogenannte “Ein Land, zwei Systeme”- Konstruktion. 

Nun gibt es offensichtlich ein Missverständnis. 50 Jahre Übergangszeit heißt nicht, dass Peking bis zum 30. Juni 2047 wartet, bis es chinesisches Recht auch in Hongkong gelten lässt. Es werden sukzessive Schritte dahingehend gemacht. In dem Maße, in dem die Menschen in Hongkong diese Schritte wahrnehmen, beginnen sie auch zu demonstrieren. Die Freiheitsrechte, an die sie sich gewöhnt haben, werden ihnen schrittweise wieder genommen. 

Die Hälfte dieses Übergangszeitraumes ist mittlerweile fast um. Es gibt gar keine Alternative zu der Tatsache, dass in Hongkong im Jahre 2047 chinesisches Recht gelten wird. Die Übergangszeit ist dann vorbei und der Sonderstatus Hongkongs erlischt. Ob man das mag oder nicht, das ist die rechtliche Grundlage, auf die sich die chinesische Regierung auch berufen kann. 

Inzwischen waren Bilder von chinesischen Truppenbewegungen in Shenzhen zu sehen. Was könnte passieren, wenn Truppen aus Festlandchina in Hongkong eingreifen sollten? 

“Tötet mich nicht” – Aufnahme vom 16.6.2019

Bei diesen Aufnahmen muss man wahrscheinlich davon ausgehen, dass es Bewegungen der bewaffneten Volkspolizei in Shenzhen sind, die sich auf Autobahnen im Umkreis der Stadt bewegen. Zunächst einmal ist das sicherlich ein symbolischer Akt, der den Demonstranten in Hongkong zeigen soll: “Wir sind bereit und vorbereitet, im Zweifelsfall auch mit stärkeren Kräften aus der Volksrepublik einzugreifen.”

Das ist ein Instrument, das möglicherweise dazu dienen soll, die Gewalt- und Demonstrationsbereitschaft in Hongkong etwas zu dämpfen. Bei Betracht der jüngsten Ereignisse in Hongkong hat diese Truppenbewegung allerdings nicht unbedingt zu einem Erfolg geführt. 

Die Frage, was ein militärischer Eingriff für China bedeuten wird, lässt sich klar beantworten: er würde zu einem massiven Imageverlust führen. Er würde dazu beitragen, dass die Börsen in Asien – aber auch weltweit – noch stärker unter Druck geraten, als sie durch die Auswirkungen des Handelskrieges ohnehin schon sind. Die chinesische Regierung würde international an den Pranger gestellt. 

Wie schwer wiegt Ihrer Einschätzung nach so ein Imageverlust für Peking?

Meine Erwartung ist leider, dass die Reaktion genau die sein wird, die wir aus der Vergangenheit bereits kennen: Die Kosten eines Souveränitätsverlustes sind aus Pekinger Sicht viel zu hoch, um dafür nicht auch einen Imageverlust zu riskieren. Im Zweifelsfall nimmt man den Imageverlust in Kauf, um die nationale Souveränität sicherzustellen.

In Festlandchina glauben viele, dass die Protestbewegung eine Unabhängigkeit von Hongkong verfolgt und demzufolge Chinas nationale Einheit gefährdet. Inwiefern beeinflusst das nationalistische Narrativ der Kommunistischen Partei die Meinungsbildung in China? 

Nationalismus ist in China eine starke Kraft, die in sehr unterschiedliche Richtungen wirkt. In China wirkt  sie gegenüber den Vereinigten Staaten sowie, besonders in der Vergangenheit, in Richtung Japan oder Korea. Nationalismus spielt natürlich auch bei der Hongkong-Frage eine Rolle. Das Gefühl von Stolz bei der Rückgewinnung von Hongkong im Jahr 1997 war stark. Daran hat sich nach meiner Einschätzung nach relativ wenig verändert. Insofern ist die Gefahr einer Abspaltung Hongkongs natürlich etwas, womit man Menschen in China Angst machen kann.

Allerdings glaube ich, dass die chinesische Regierung gar nicht so weit gehen muss. Die Frage einer Unabhängigkeit Hongkongs oder die Frage einer Loslösung vom chinesischen Festland stellt sich nicht. Mit dem Vertrag von 1997 ist die Zugehörigkeit Hongkongs zur Volksrepublik China geregelt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein internationaler Akteur diese Grundregel in irgendeiner Weise infrage stellt. Hongkong gehört zu China. Das, worüber gestritten wird, ist die innere Organisation Hongkongs.

China betont wie eh und je, dass die Hongkong-Frage zu seinen inneren Angelegenheiten gehört. Andererseits geht die Situation natürlich nicht an der internationalen Gemeinschaft vorbei. Welche Rolle könnte Deutschland für die Entwicklungen in Hongkong spielen? 

Die Bundesregierung kann das tun, was sie bislang schon getan hat. Sie kann Reden halten, sie kann Ermahnungen aussprechen. Ob das eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten ist, liegt im Auge des Betrachters. Hier gibt es eine sehr unscharfe Grenze, vor allem in Anbetracht einer globalen Welt. Tatsache ist –  ich glaube, das bestreitet auch das Auswärtige Amt nicht – dass es sich hier letztlich um eine innere chinesische Angelegenheit handelt. China nutzt aber sehr gerne und sehr häufig die Phrase “Einmischung in innere Angelegenheiten”, um unliebsame Kritik aus dem Ausland abzuwehren.

Solange viele deutsche Unternehmen in Hongkong angesiedelt sind und solange auch deutsche Unternehmen betroffen sind, wird dieser Ansatz wohl nicht greifen. Wenn die Destabilisierung Hongkongs wirtschaftliche Auswirkungen zeigt, dann wird man in Peking damit leben müssen, dass deutsche Politiker und das Auswärtige Amt zumindest besorgte Stellungnahmen veröffentlichen. Das stellt nicht unbedingt eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas dar, das ist jedoch eine natürliche Reaktion, wenn man selbst von den Auswirkungen der Ereignisse vor Ort betroffen ist.

Hier fliegt nichts mehr – Hongkonger Flughafen am 12.8.2019

Bundeskanzlerin Angela Merkel könnte noch in diesem Jahr nach China reisen. Wird sie die Hongkong-Frage oder andere sensible Themen wie Xinjiang mit der chinesischen Führung besprechen? 

Sie wird bei der nächsten Gelegenheit diese Themen mit Sicherheit ansprechen, jedoch nicht so sehr mit der Absicht, Druck auf China Druck auszuüben. Deutschland ist ein wichtiger Partner Chinas, aber im Vergleich zu China eben doch ein relativ kleines Land. Es ist jedoch natürlich unser Interesse, die Themen, von denen deutsche Unternehmen zum Teil direkt betroffen sind, anzusprechen und die deutsche Position klar zu machen. Das hat die Kanzlerin – wie ihre Vorgänger – in der Vergangenheit immer getan. Die berühmte Abgrenzung zwischen Werten und Interessen ist glaube ich jedoch kein Aspekt, den die Kanzlerin besonders verfolgen wird.

Unter Xi Jinping ist China außenpolitisch und strategisch aktiver. Glauben Sie, dass China darauf abzielt, eine Art “Tribut-System” nach historischem Muster in Ostasien wiederherzustellen? Oder versucht China eher, die Multipolarisierung der Weltordnung voranzutreiben und ein Machtgleichgewicht zwischen den Großmächten zu erreichen? 

Hongkong ist durchaus ein Problem innerhalb des Rahmens der chinesischen Ambitionen, aber diese Ambitionen sind relativ einfach zu erklären: das sind die Ambitionen eines Landes, das in den letzten 40 Jahren wirtschaftlich sehr erfolgreich war und jetzt erkennt es, dass es diesen wirtschaftlichen Erfolg auch politisch umsetzen kann. Ich glaube nicht, dass man mit dem Tributsystem aus vergangenen Dynastien argumentieren kann, da sich die Geschichte nicht wiederholt. Die Tatsache, dass dieses Land global vernetzt ist und dass es eine digitale Führerschaft anstrebt, führt automatisch dazu, dass China eine der wichtigen, wenn nicht eine der wichtigsten Stimmen im internationalen Konzert wird. Das ist insofern kein überraschender Prozess.

Diejenigen, die dadurch einen Machtverlust hinnehmen müssen, werden Schwierigkeiten haben, sich daran zu gewöhnen. Das gilt für Europa. Das gilt insbesondere für die Vereinigten Staaten. In vielerlei Hinsicht ist es eine normale Entwicklung, die wir hier beobachten. Gleichzeitig stellt es jedoch einen Prozess dar, der nicht zwangsläufig ohne Konflikte abläuft, und wir stecken mitten in diesen Konflikten. Hongkong ist darin nur ein Teil des Mosaiks.

Der Inhalt des Gesprächs wurde für die Veröffentlichung gekürzt. Wir bedanken uns bei Prof. Sandschneider für das Interview.

Bildnachweise: “20190818 Hong Kong anti-extradition bill protest” und “Hong Kong International Airport 20190812” by Studio Incendo via flickr, shared under a CC license. “16 June 2019 antiextradition 223” by Etan Liam via flickr, shared under a CC license.

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sinonerds-Autor*in

Chaoting Cheng

Chaoting Cheng studiert Chinastudien und Politikwissenschaft an FU Berlin. Vor dem Studium hatte er bei Huawei (1999-2013) in China, Indien, Afrika und Europa gearbeitet. Seine Forschungsinteressen sind Geopolitik, internationale Beziehungen und Chinas Außenpolitik.

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