Die Peking-Xi’an-Shanghai-Rundreise, das Praktikum im deutschen Konsulat in Chengdu oder ein Auslandssemester an einer chinesischen Eliteuniversität – es gibt viele Wege um erste China-Erfahrungen zu sammeln und einige sind typischer als andere. Carlo, heute Sinologie-Student an der Universität Tübingen, ist seiner Leidenschaft gefolgt und seinen ganz eigenen Weg gegangen. Dieser führte ihn geradewegs in die Provinz Henan, der historischen Wiege des Kung-Fu.
Mit leichten Schritten traben wir über den sandigen Boden auf einem Weg, der uns durch die Maisfelder führt. Der Mais ist hoch gewachsen, doch durch die Dürre der letzten Monate sind die Blätter vergilbt und vertrocknet. Ich genieße es, wie die Füße meiner Partner alle im gleichen Takt auf dem Boden aufkommen. Von weiter weg höre ich die Rufe anderer Gruppen, die durch das Tal hallen, bevor mein Gruppenführer selbst auch laut rufend den Takt vorgibt und wir alle mit einsteigen. Es ist halb sechs, aber alle sind schon auf den Beinen und strömen auf die leere Schnellstraße, die durch das Tal zu einer Outdoor-Oper führt. Wo abends die Touristen kommen, um den Gesängen zu lauschen und die Show zu genießen, versammeln sich morgens Gruppen aus den umliegenden Kung-Fu-Schulen, um ihr alltägliches Training einzuleiten. Wir sind da. Jetzt geht es richtig los.
Auf nach China
Ich liege auf dem Stockbett in der kleinen Schule außerhalb von Dengfeng (登封), der Kung-Fu-Hauptstadt Chinas, und denke an die letzten zwei Tage. Nun habe ich mich also wirklich auf die Reise in das Ursprungsland des Kung-Fu (功夫 gōng fū) gemacht. Fest entschlossen, die Kampfkunst am Limit zu trainieren, schaffte ich es, mich ohne große Chinesischkenntnisse zu einer Schule mit vier anderen Ausländern und ca. 70 chinesischen Kindern durchzuschlagen. Selbst mitten in der Nacht hält die schwüle Sommerhitze an und ich bin mir auch noch nicht sicher, wie ich auf dem Holzbrett einschlafen soll.
Durch den Jetlag dann doch noch in einen tiefen Schlaf geworfen, rüttelt es schon nach wenigen Stunden an meinem Bett. „Aufstehen, noch 10 Minuten“. Wie noch 10 Minuten? Ich spring von meinem Holzbrett, auf das man eine dünne Decke gelegt hatte, auf, ziehe mich an, wasche mir das Gesicht und stehe kurz darauf am Eingang des „Ausländerhauses“. Die Sonne hängt noch hinter den Bergen und schenkt nur ein trübes Licht als wir losjoggen. Nach einer Weile halten wir an und machen unsere ersten Übungen: Liegestützen, Sprünge, Dehnübungen und verschiedene Haltepositionen. Etwas in die Hocke gehen, den Rücken gerade halten und die Hände entspannt in einem Kreis nach vorne strecken. Die Augen schließen und sich bewusst werden, was man gerade macht, wo man ist und was man heute machen möchte. Um sieben Uhr gibt es Frühstück.
Training
Die neidischen Blicke der Kinder aus den Unterrichtsräumen verfolgen uns den ganzen Morgen. Nur die älteren Schüler und Ausländer dürfen vormittags trainieren. Während wir auf dem Platz der Schule und in den Trainingshallen den Befehlen der Trainer lauschen, sitzen die Kleinen in den Klassenzimmern und lernen Mathe, Englisch, Physik. Sie alle hoffen später einen Job beim Militär oder der Polizei zu bekommen, oder mit Filmen und Aufführungen ihr Geld zu verdienen. Vielleicht öffnen sie auch ihre eigene Schule.
Den Tag über trainieren wir Formen mit und ohne Waffen, Techniken zum Angriff und zur Abwehr, Akrobatik, Freikampf, immer wieder die Dehnbarkeit (oft unter aktivem Mitwirken des Trainers) und Kraft. Die Formen sind wie eine fließende Aneinanderreihung verschiedener Techniken und fast jede Bewegung in den Formen hat eine Anwendung, die wir besprechen und üben. Während der Mittagshitze haben wir immer eine längere Pause und trainieren erst ab dem Nachmittag wieder bis in den Abend hinein.
Außer unserem Trainer, „Tyson“, der uns oft bei einer kleinen Brücke bei den Maisfeldern coacht oder uns ab und an zum Training in die Berge führt, kommt manchmal auch der Meister der Schule bei uns vorbei, verbessert jedes kleine Detail und zeigt uns Tricks zu den Formen und Techniken.
Disziplin
Hier im Sanda-Team (散打, chinesisches Kickboxen), in das ich vom Traditionellen-Kung-Fu-Team gewechselt bin, lerne ich schnell was Liegestütze (俯卧撑 fǔ wò chēng) auf Chinesisch heißen und wie man den Takt beim Joggen (跑步 pǎo bù) auf Chinesisch zählt. Das Training, vor allem das Morgentraining, ist hier noch härter und zielt mehr auf die Abhärtung und Kraft als auf die genaue Beherrschung der Techniken und Formen, oder die mentale Entwicklung ab. Manchmal kann ich abends die Stäbchen nicht still halten und meine Beine schmerzen so sehr, dass ich es teilweise für unmöglich halte, weiter zu trainieren. Aber ich muss, und ich will. Auf eine gewisse Art ist das auch mentales Training.
Schwächen, Fehler und Regelbrüche werden nicht toleriert und jede falsche Bewegung, jeder Versuch sich vor dem Training zu drücken, jede Hänselei der anderen Schüler wird sofort bestraft. Eine Gruppe kam gerade von einem Auftritt zurück und hatte dort anscheinend einige Fehler begangen, ich weiß es nicht genau. Ich hatte nur gesehen, dass sie sich während der Mittagszeit in Liegestützposition aufreihen mussten und auf jedem von ihnen ein Holzstock zerschlagen wurde. Dagegen sind die kleinen Klapser meines Trainers, wenn ich mich einmal nicht weit genug dehne, nicht der Rede wert.
Die zweite Schule
Ich entscheide mich für weitere drei Monate noch eine andere Schule zu besuchen, welche mehr auf Ausländer spezialisiert ist (Englisch sprechende Trainer und Chinesischunterricht). Das Training dort ist fast gleich aufgebaut, nur gibt es hier eine eigene Ausländergruppe und das Training für uns ist auf Englisch.
Langsam erreicht uns der Winter und nur der harte Kern unserer Kung-Fu-Gruppe bleibt übrig: Diejenigen, die dazu bereit sind, der eiskalten Jahreszeit ohne Heizung zu trotzen. Und diese Herausforderung schweißt unsere kleine Gruppe zusammen. Gemeinsam stützen wir uns nach dem Training, wenn es jemand mal nicht die Treppe hoch schafft. Gemeinsam sammeln wir Ideen, wie wir unsere Zimmer in den eisigen Nächten warm halten können. Als wenn das noch nicht genug wäre, entscheidet sich der Trainer, den harten Kern noch weiter auf die Probe zu stellen, und führt morgendliche „Powertrainings“ ein. Lange Sprints, lange Bergläufe, unendlich viele Kniebeugen und Sprünge, den Partner auf den Schultern tragen und so weiter, bevor auch wir uns dann endlich zum Frühstück schleppen dürfen.
Grenzen
„You don’t get any lunch, until you can do it!” Meine Knie zittern, von meiner Stirn läuft der Schweiß in meine Augen. Ich lehne mich erneut nach hinten und versuche wieder mich in die Brücke fallen zu lassen. Wuumps. Wieder hat die Angst meine Arme gelähmt und ich falle mit dem Rücken auf den Asphalt. „Come on Carlo, you can do it! “ Die anderen Gruppen sind schon beim Essen, nur noch meine Gruppe steht um mich herum und ruft mir zu. „Get up!“, ruft der Shifu (师傅, Meister) und ich stehe sofort auf, konzentriere mich, lehne mich zurück, sehe den Boden auf mich zu rasen, doch dieses Mal bleiben meine Hände gestreckt und ich falle nicht. Geschafft! „You see, really easy“, sagt der Shifu nur. Ich muss grinsen und stelle mich in die Reihe, um das Training zu beenden.
Grenzen überschreiten ist hier an der Tagesordnung. Noch fünf Liegestützen mehr machen, noch weiter in den Spagat gehen, den Sprung noch ein Stück höher schaffen und mich endlich trauen, mich rückwärts in die Brücke fallen zu lassen.
Als ich in Deutschland zwei, drei Mal die Woche Kung-Fu trainierte, konnte ich mich fit halten und kleine Fortschritte erzielen. Doch hier herrscht ein ganz anderes Niveau. Auf die Frage vieler meiner Freunde, ob das Training denn nun schwerer sei als in Deutschland, fällt es mir immer schwer einen Vergleich zu ziehen. Zum Beispiel, weil ich hier vor dem Frühstück oft schon mehr Kalorien verbrenne als in Deutschland bei allen Trainings der Woche zusammen. Das Wohnen am Trainingsort unter harten Bedingungen, die den Körper zusätzlich fordern, die Atmosphäre, die Landschaft, die Sprache, die anderen Trainierenden, das Bewusstsein, dass ich mich in China befinde – das alles lässt den Geist aufblühen und ich kann mich 100% auf das Training einlassen. Die erzielten Effekte, ob nun aus physischer oder psychischer Sicht betrachtet, sind hier viel höher und intensiver.
Die Rechte aller Bilder im Text sowie dem Titelbild liegen bei Carlo Pfander.