Der Mandarin-Code 5.1: Traditionell vs. Vereinfacht

Wie viele Schriftzeichen gibt es? Ist die Aussprache wirklich so schwer? Kann man Chinesisch überhaupt lernen? In unserer Inforeihe Der Mandarin-Code schreibt sinonerds-Autor Lewe über die vielen Fragen, denen frische oder angehende Chinesischlernende begegnen, und räumt so die eine oder andere Unklarheit aus dem Weg.

Fängt man an Chinesisch zu lernen, hat man es meistens mit Kurzzeichen zu tun. Die zu schreiben und auswendig zu lernen, dauert schon lang genug. Immerhin sitzt man ja wie ein Grundschüler da und versucht mühsam, Strich für Strich der völlig neuen Schrift nachzumalen. Und dann soll es da Zeichen geben, die noch komplizierter sind, noch mehr Striche haben? Ich für meinen Teil wollte lange nichts von traditionellen Zeichen wissen. Aber mit der Zeit wurde aus Ablehnung Respekt. Da steckt schon eine Menge drin in diesen Langzeichen, und außerdem sehen viele von ihnen schicker aus als ihre verkürzten Versionen.

Ein paar Beispiele für sehr strichsparende Kurzzeichen mit ihren Langzeichen:

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Sofort nach ihrer Machtübernahme beschlossen die Kommunisten, dass China eine vereinfachte Schrift brauchte. Sie fanden, chinesische Zeichen waren sowohl für die eigene Bevölkerung als auch für Ausländer zu schwer zu lernen, und obendrein war Mitte des 20. Jahrhunderts das maschinelle Schreiben von Zeichen noch weitaus komplizierter als das von Buchstaben. Das sollte sich ändern. Also wurde eine großangelegte Schriftreform vom Stapel gelassen, die ursprünglich zwei Ziele hatte: Die Zeichen vereinfachen und eine phonetische Schrift als Ersatz (*siehe Box unten) für Schriftzeichen entwerfen. Zwar ging die Reform anders aus als ursprünglich geplant, doch die Kurzzeichen blieben bestehen.

In dieser riesigen Umstellung wurde der gesamte Zeichenschatz systematisch vereinfacht. Trotzdem heißt das nicht, dass es für alle Schriftzeichen eine Version in Kurz- und Langzeichen gibt. Insgesamt gibt es 2.235 Kurzzeichen, die allermeisten Schriftzeichen sind also im traditionellen und vereinfachten Chinesisch identisch. Wie kam das?

Back to the roots

Zehntausende Schriftzeichen zu vereinfachen ist eine knifflige Aufgabe. Natürlich konnten sich nicht einfach ein paar Wissenschaftler zusammensetzen und für alle Zeichen Pi mal Daumen neue Schreibweisen ausdenken. In Wirklichkeit erfanden sie ein komplexes System, das einige Hundert Grundzeichen und Radikale drastisch vereinfachte. Erst dann wendeten sie diese Basis-Vereinfachung wie einen Dominoeffekt auf den restlichen Zeichenschatz an.

Für die Vereinfachung der grundlegenden Zeichen und Radikale gab es mehrere Methoden. Ein paar Beispiele dafür seht ihr hier.

1.) „Schnellschreibweisen“, also handschriftliche Versionen von Zeichen, die sich teilweise über Jahrhunderte hinweg etabliert hatten, wurden zu Standardschreibweisen gemacht:

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2.) Bei manchen Schriftzeichen wurden einfach ganze Bestandteile gestrichen:

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3.) Oder ein Schriftzeichen wurde zu einem gleichklingenden Zeichen vereinfacht, das es schon vorher gab und die gleiche Aussprache besaß, aber wesentlich einfacher geschrieben wurde:

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Diese drei Beispiele sind wohlgemerkt nur ein paar der vielen Methoden, nach denen die Wissenschaftler hàn zì 汉字 vereinfacht haben.

Die Kurzzeichen-Matrix

Diese Methoden sind sehr aufwendig und natürlich waren die Vereinfachungen einzelner Zeichen unter Experten oft umstritten. Der ganze Zeichenschatz hätte niemals auf diese Weise vereinfacht werden können. Doch den Wissenschaftlern kam zu Gute, dass Schriftzeichen von Natur aus einem bestimmten System folgen (siehe Der Mandarin-Code, Teil 4).

So schufen sich die Experten eine eigene Kurzzeichen-Matrix: Sie vereinfachten am Anfang nur eine Basis von Schriftzeichen, insgesamt nicht mehr als ein paar Hundert. Davon waren 350 Zeichen „Ausnahmen“, die für sich alleine standen. Dazu gab es allerdings noch 132 Zeichen und 14 Radikale, die vereinfacht wurden um eben jenen Dominoeffekt im restlichen Zeichenschatz auszulösen. Nach ihrer Vorlage wurden die verbliebenen zigtausend Zeichen vereinfacht: Alle Zeichen, die in irgendeiner Weise aus einem der 132 Basiszeichen oder 14 Radikale bestanden, waren automatisch gekürzt. Auf der Grundlage dieses Systems wurden alle vereinfachten Zeichen in drei Listen unterteilt.

Die erste Liste (die Ausnahmen):

350 Zeichen. Die Zeichen in dieser Liste sind einzigartig, das heißt, auf ihnen basiert keine weitere Vereinfachung.

Die zweite Liste (Die Dominoeffekt-Auslöser):

132 Zeichen und 14 Radikale. Die Zeichen in dieser Liste sind die Vorlage für die Vereinfachung aller anderen Schriftzeichen.

Die dritte Liste (Die „Umgekippten“):

1.753 Zeichen. Die Zeichen in dieser Liste wurden nach dem Muster der Zeichen aus der zweiten Liste vereinfacht. Gibt es Zeichen, die in keiner der drei Listen aufgeführt sind und nach den Vorgaben der zweiten Liste vereinfacht werden können, so sollten diese auch vereinfacht werden.

So funktionierte der Dominoeffekt:

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Die drei Listen mit ihren Details kann man sich hier ansehen.

Kurzzeichen sind durchdacht, ökonomisch und sparen beim Schreiben wirklich viel Zeit. Ich würde sie nicht missen wollen. Trotzdem sollte man sich als fortgeschrittener Lerner auch an Langzeichen heranwagen und das nicht nur, weil sie noch immer in Taiwan, Hongkong und Macao benutzt werden. Viele der Zeichen offenbaren Zusammenhänge (häufig z.B. bei ihren phonetischen Radikalen), die bei Kurzzeichen unter den Tisch fallen. Außerdem erkennt man in den Langzeichen besser den eigentlichen Ursprung der Zeichen, während die vereinfachten Versionen an manchen Stellen auf Kosten der Etymologie sparen. Dazu mehr in der Fortsetzung!

*Ein Ersatz für Schriftzeichen?

Allein die Idee, Schriftzeichen komplett abzuschaffen, hat für uns etwas unvorstellbares. Chinesisch ohne Schriftzeichen klingt so wie Autos ohne Räder. Doch genau daran dachte die chinesische Regierung in den 1950ern. Und tatsächlich gibt es ja Sprachen, deren Schreibsysteme völlig umgestellt wurden. Die vietnamesischen Schriftzeichen, die auf hàn zì 汉字 basierten, wurden erst in den 1920er Jahren mit modifizierten lateinischen Buchstaben ersetzt, die irgendwann Missionare erfunden hatten. In Korea passierte etwas ähnliches: Chinesische Schriftzeichen dominierten über Jahrhunderte, doch dann setzte sich hangul 한글 durch. Die künstlich entwickelte phonographische Schrift wurde schon im 15. Jahrhundert entwickelt und fasste erst im 20. Jahrhundert richtig Fuß. Heute ist hangul 한글 die koreanische Standardschrift.

Insofern war die Idee, hàn zì mit einer anderen Schrift zu ersetzen, vielleicht gar nicht so verrückt. Als Kandidat für den Ersatz war Kyrillisch hoch im Kurs, um den Freunden aus der Sowjetunion den Zugang zum Chinesischen zu erleichtern. Doch dafür reichte die kommunistische Freundschaft wohl nicht aus. Mao wollte lieber eine völlig neue, phonographische Schrift basierend auf den Grundstrichen chinesischer Zeichen entwickeln lassen (ähnlich wie japanische katakana und hiragana also, oder das in Taiwan benutzte Bopomofo), aber er war mit den Vorschlägen dafür nicht zufrieden. Letzten Endes schien das lateinische Alphabet auf Grund seiner weltweiten Verbreitung doch die beste Option zu sein. Am Ende wurden Schriftzeichen zwar nicht mit lateinischen Buchstaben ersetzt, aber dafür war die Entwicklung dieses Systems der Anfang des Hanyu Pinyin (汉语拼音).

Der Mandarin-Code 5.2: Lang leben die Langzeichen