Wie viele Schriftzeichen gibt es? Ist die Aussprache wirklich so schwer? Kann man Chinesisch überhaupt lernen? In unserer Inforeihe Der Mandarin-Code schreibt sinonerds-Autor Lewe über die vielen Fragen, denen frische oder angehende Chinesischlernende begegnen und räumt so die eine oder andere Unklarheit aus dem Weg.
Kurzzeichen sparen Zeit, Tinte und wahrscheinlich auch jede Menge Speicher in Textverarbeitungsprogrammen. Manche Leute finden sie einfach praktisch, andere dagegen abscheulich. Wo bleibt die jahrtausendealte Evolution und Kultur der Zeichen, wenn sie ein paar Forscher alle auf einen Schlag vereinfachen? Wer sich die traditionellen Zeichen anguckt, merkt schnell, dass ihre vereinfachten Pendants tatsächlich an einigen Stellen etwas unter den Tisch fallen lassen. Trotzdem muss man zugeben, dass sie gleichzeitig auch ihre eigene Logik haben.
Es gibt ein paar gute Beispiele, an denen man die Kontroverse zwischen Einfachheit und Verstümmelung gut erkennen kann. Schauen wir uns einmal an, was uns die Kurzzeichen zu bieten haben, aber eben auch wegnehmen.
Yin und Yang und die Extrawurst
Nehmen wir zum Beispiel Yin und Yang. Das vielzitierte, fast mystische Konzept, das irgendwie fest in die Weltordnung integriert ist, aber kaum einer so richtig versteht, geschweige denn erklären kann. In Kurzzeichen schreibt es sich 阴阳: Ein Mond (月 yuè) für Yin, das „dunkle“, „weibliche“, ja gar „negative“ Prinzip der Weltordnung. Auf der anderen Seite sehen wir eine Sonne (日 rì) für Yang, das „helle“, „männliche“, „positive“ Gegenstück.
Was sagen die traditionellen Zeichen zu Yin und Yang? 陰陽. Wir sehen keinen Mond mehr für Yin, dafür ein 今 (jīn), das so ähnlich klingt wie yīn und die Aussprache des Zeichens andeutet (siehe Der Mandarin Code 4). Dann haben wir noch eine Wolke (云) darunter, die auf die Bedeutung hinweist. 陰 oder 阴 heißt nämlich auch „bewölkt“ oder „schattig“. Auf der anderen Seite hat Yang auch keine Sonne, sondern das Zeichen 昜 (yáng). Dieses taucht kaum als einzelnes Zeichen auf, aber es wird genauso ausgesprochen wie das berühmte Yang, und heißt obendrein auch noch „strahlend“.
Dieses 昜 taucht in einigen anderen Zeichen auf, die auch alle yáng ausgesprochen werden. Diese Zeichen wurden allerdings alle nach dem Dominoprinzip vereinfacht (siehe Der Mandarin Code 5.1) und das 昜 wurde etwas abstrahiert. Wo ist also der Fehler in dieser Tabelle?
Das berühmte Yang hat ganz klar eine Extrawurst bekommen. Als einziges yáng wurde sein 昜 zu einer Sonne vereinfacht, nicht zu diesem merkwürdigen Radikal, für das es nicht einmal einen Namen gibt. Die Kurzzeichen gestehen 阴阳 eine besondere Rolle zu: Zwar ist ihre komplementäre Bedeutung sofort zu erkennen (Mond vs. Sonne für dunkel und hell), aber wo die Aussprache herkommt, bleibt obskur (yuè und rì sind weit weg von yīn und yáng). In der traditionellen Schreibweise sind 陰陽 schnöde Zeichen, die aber wunderbar sowohl auf ihre Etymologie als auch ihre Aussprache schließen lassen.
Ein Pinsel kommt selten allein
Bei einigen Zeichen kann man das Verschwinden der bedeutungstragenden Radikale (oder Semantika) noch stärker beobachten. Ein gutes Beispiel dafür ist das Zeichen 聿 (yù). Ursprünglich stellt dieses Zeichen drei Finger der rechten Hand dar, die einen Pinsel halten. Die beiden unteren horizontalen Striche deuten die Schreibunterlage und das Papier an, auf dem der Pinsel schreibt. Viel besser hätte man dieses zentrale Element der chinesischen Kultur wohl nicht darstellen können.
聿 findet sich in den traditionellen Zeichen für Buch (書 shū), für Pinsel (筆 bǐ ) und Bild, (畫 huà); beim Buch ist darunter ein geöffneter Mund (曰), das Zeichen verbildlicht also: „das Gesprochene aufschreiben“. Der Pinsel hat über dem 聿 das Bambusradikal 竹, denn daraus waren Pinsel gemacht. Das Bild als Produkt von 聿 ist als Kasten mit einem Kreuz angedeutet, unter dem wiederum eine Unterlage ist. Und jetzt das Erstaunliche: Bei allen drei Vereinfachungen ging das Bild der pinselführenden Hand 聿 verloren! Das Buch hat nun eine völlig abstrakte Form (书), der Pinsel ist zwar noch aus Bambus, aber sein Hauptmerkmal sind nun wohl Haare (笔), und das Bild sieht schlichtweg aus wie ein Bild, vielleicht sogar eins mit Rahmen (画).
Man sieht also: Die klare, eindeutige Gemeinsamkeit der traditionellen Zeichen bewahrt den Ursprung der Zeichen und damit auch die chinesische Kultur. Mit den Kurzzeichen dagegen entwarfen die Reformer aus den klassischen Zeichen völlig neue Sinnbilder. Trotzdem muss man den vereinfachten Versionen zugestehen, dass sie einprägsam sind. In 画 erkennt man sofort ein Bild, Bambus (竹) und Haare (毛) ergeben in der Tat einen Pinsel, und das Kurzzeichen für Buch 书 übernahm einfach eine Schreibweise, die sich über Jahrhunderte hinweg für das komplexere 書 eingebürgert hatte.
Der Drache mit gestutzten Flügeln
Wenn man sagen kann, dass Kurzzeichen die chinesische Schrift ihrer klaren Bildlichkeit beraubt haben, so hat die Vereinfachung vielleicht am schlimmsten in der Tierwelt gewütet. Eigentlich sind die ideographischen Zeichen des Chinesischen wie geschaffen für die Abbildung von Tieren. An welchem Zeichen könnte man das besser erkennen als 龜 (guī)? In diesem traditionellen Zeichen für „Schildkröte“ erkennt man oben den Kopf, auf der linken Seite die Beine, die unter dem Panzer herausragen, der wiederum auf der rechten Seite durch einen gekreuzten Kasten angedeutet ist. Mit 16 Strichen ist 龜 zugegebenermaßen nicht ganz leicht zu schreiben. Aber diese Hürde kann kaum das nichtssagende Kurzzeichen 龟 rechtfertigen, das obendrein auch noch leicht mit dem Kurzzeichen für Strom 电 (diàn) zu verwechseln ist.
Den Drachen hat es genauso hart erwischt. Das mächtige, in China geliebte Tier wurde etliche Jahrhunderte lang 龍 (lóng) geschrieben. Ein Zeichen, in dem man den langen, gewundenen Körper des Drachens sehen kann, und in dem sogar seine Flügel (auf der rechten unteren Seite) zum Vorschein treten. Für das Kurzzeichen wurden dem Drachen seine Flügel gestutzt und seine stattliche Erscheinung ist – wenn überhaupt – nur noch schemenhaft zu erkennen: 龙. Plötzlich unterscheidet sich der Drache nur noch durch einen Strich von 尤 (yóu), einem völlig banalen Zeichen, das meistens als Adverb benutzt wird.
Eine Frage bleibt offen: Warum wurden 龜 und 龍 und andere Zeichen so drastisch gekürzt, andere aber nicht? Das Zeichen für „Ratte“ 鼠 hat auch immerhin 13 Striche, ist aber in Kurz- und Langzeichen völlig identisch. Das ist vor allem verwirrend, da andere Zeichen, die 鼠 in ihrer traditionellen Schreibweise als Komponente hatten, gekürzt wurden. Da hätten wir das Zeichen 竄 (cuàn). Ein geniales Ideogramm, das zeigt, wie eine Ratte in ein Loch (穴) rennt. Die Bedeutung von 竄: fliehen. Die Katze, vor der die Ratte auf der Flucht ist, muss man sich dazu denken. Das Kurzzeichen macht daraus 窜, und aus der Ratte wird ein Spieß (串)! Alle 串儿-Liebhaber werden dessen Aussprache kennen, nämlich chuàn, ganz ähnlich wie die von 竄 bzw. 窜. Ein geschickter, sehr strichsparender Handgriff, der aber wieder auf Kosten der Etymologie ging. Und so bleibt es ein Rätsel, warum gerade die Ratte ihre „Physiognomie“ in voller Pracht behalten durfte:
Versteckte Vögel
Übrigens lassen sich Tiere auch in ganz unscheinbaren Zeichen finden. Das beste Beispiel dafür ist 隹 (zhuī), das einen eher kompakt gebauten Vogel darstellt. Es ist zum Beispiel im Wort für „Spatz“ 雀 (què), das die Statur des Vogels quasi ausbuchstabiert: Ein 小 (xiǎo) und ein 隹 ergeben zusammen einen Spatz, also ganz wörtlich – oder bildlich – „kleiner Vogel“. Der Vogel 隹 tauchte in den traditionellen Zeichen auch als Verbildlichung auf. Das Zeichen 隻 zeigt ihn alleine auf einer Hand (又) sitzend und hat schlicht die Bedeutung „ein/e“: Es ist das universelle Zähleinheitswort für Vögel! Und gleichzeitig auch das am meisten benutzte Zähleinheitswort (ZEW) für alle kleineren Tiere, wie Katzen, Kaninchen, Mäuse und viele andere. Ganz eng verwandt mit 隻 ist das Zeichen 雙 (shuāng). Zwei Vögel, die nebeneinander auf einer Hand sitzen: „doppelt“ oder „ein Paar“. 雙 ist das ZEW für Dinge, die in Paaren auftreten, wie Schuhe oder Handschuhe.
Tief durchatmen. In der Welt der Kurzzeichen wurde 隻 zu 只 und 雙 zu 双. Die schönen Bilder von den Vögeln auf der Hand gibt es nicht mehr: Der einzelne Vogel als ZEW wurde zu dem übersichtlichen Zeichen 只, das ursprünglich ausschließlich die Bedeutung „nur“ hatte. Der doppelte Vogel wurde zu zwei Händen (又 und 又), und erfüllt damit wohl seinen Zweck. Trotzdem ging die brillante Bildlichkeit und die Parallelität der Zeichen in der Schriftreform verloren.
Lang leben die Langzeichen
Geht man auf die Suche, findet man in den Kurzzeichen eine Fülle von stark abstrahierten Sinnbildern, amputierten Tieren und weggefallenen Bestandteilen. Kurzzeichen sind zwar ein Erfolg hinsichtlich ihrer Effizienz und Einfachheit. Doch allzu oft radieren sie einen Teil der Bildlichkeit der chinesischen Schrift weg und drängen so die Essenz der Zeichen in den Hintergrund. Traditionelle Zeichen sind daher ein Muss für jeden, der Chinesisch genauer kennenlernen will!
Glückwunsch! Du hast das Ende des Mandarin-Codes erreicht und hast nun hoffentlich ein Gefühl für die Basisstruktur der chinesischen Sprache gewonnen. Falls du noch nicht genug hast und noch tiefer in den Aufbau eines Schriftzeichens und daraus resultierende Lernmethoden eintauchen möchtest, check doch mal unsere dreiteilige Serie Wie man ein Zeichen korrekt lernt aus! In unserem Magazin findest du außerdem weitere Artikel zum Thema Chinesisch.