Jemand muss die Geschichten nur erzählen

Dieser Artikel ist ein Beitrag aus unserem sinonerds Spotlight: Chinesischer Film. Auf unserer Übersichtsseite gibt es nochmal alle Artikel und Interviews zum Nachlesen, Nachschlagen oder Rumstöbern.

Der Regisseur und Schauspieler Fang Yu hat in unzähligen Rollen im Fernsehen gespielt, eigene Filme produziert und auch im Theater auf der Bühne gestanden. Beim Interview in seinem Wohnzimmer in Berlin sprach er mit mir über die Themen, die ihn als Filmschaffenden interessieren, und die Motivation hinter der selbst gewählten Aufgabe, die Geschichten und Schicksale anderer Menschen zu erzählen.

sinonerds: Ich freue mich sehr, dass Sie für uns Zeit gefunden haben, Herr Fang Yu. Mich würde sehr interessieren, was Sie dazu motiviert hat, Schauspieler zu werden.

Fang Yu

Fang Yu

Fang Yu: Der Weg besteht aus sehr vielen Umwegen, wie immer im Leben. Meine erste Begegnung mit dem deutschen Film und Theater war in China, wo ich damals Deutsch studiert habe. Ich habe dort Rainer Werner Fassbinders Film „Angst essen Seele auf“ und in einem Gastspiel des Mannheimer Nationaltheaters 1982 „Der Bockerer“ gesehen. Beides hat mich sehr fasziniert. In meiner Jugend hatte ich nur die acht Modellopern gesehen und nach zehn Jahren sind sie irgendwann grauenvoll, man kann sie quasi rückwärts singen. In meiner Abschlussarbeit habe ich dann über Berthold Brecht geschrieben. Da war der Anfang meiner Beschäftigung mit Film und Theater.

1984 bin ich nach Deutschland gegangen und habe Theaterwissenschaften in Köln und Berlin studiert. Bald habe ich festgestellt, dass ich kein Theoriemensch bin und es eher in meinem Interesse liegt, Theater zu machen. Ich hatte von Prof. Dr. Peter Simhandl an der HdK gehört, der sehr engagierte Theatermacher betreute. Ich wollte dort studieren, aber war zu alt für die Aufnahmeprüfung. Ich habe glücklicherweise ein Angebot bekommen, als Assistent zu arbeiten. Meine Karriere fing also als Gast an – als Gaststudent an der Uni und als Gast in Deutschland.

In ihrer Karriere haben Sie also mehr im Theater gespielt?

Weil mein Gesicht nicht zum deutschen Theater passt, habe ich lange Zeit nur im Off-Theater gespielt. Erst vor zwei Jahren habe ich auf der Bühne eines Theaters gestanden, nämlich im Schauspielhaus Graz, und letztes Jahr im Renaissance Theater. Damals im Studium waren Kamera, Film und Fernsehen mehr oder weniger verpönt. Daher habe ich mich lange gegen die Arbeit dort gesträubt, aber weil ich keine Chance hatte, auf deutschen Bühnen zu spielen, hat sich meine schauspielerische Tätigkeit dann doch mehr auf Film und Fernsehen konzentriert.

Nach kleineren Projekten habe ich ab 2003 regelmäßig vor der Kamera gestanden. Es war eine sehr interessante Welt, und die Atmosphäre war ganz anders, nämlich sehr entspannt, aber auch sehr effektiv. So hat es angefangen: Tatort, Polizeiruf, Fernsehfilme, Werbung, Kinofilme und zwei Mal sogar Nebenrollen in Hollywoodproduktionen – ich habe jetzt meistens um die 10 Produktionen im Jahr. In den letzten 10 Jahren habe ich bei der Arbeit sehr viel gelernt und auch den Wunsch bekommen, selbst einen Spielfilm zu machen. Meine Vorbilder sind dabei alle meine Kollegen. Bei jedem Dreh, an jedem Tag kann man von so vielen verschiedenen Leuten etwas lernen: Ausstatter oder Beleuchter, sowas findet man nicht im Lehrbuch. Es gibt ein Sprichwort von Konfuzius, dass unter drei Leuten immer einer dein Lehrer sein kann.

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Bei Dreharbeiten in Deutschland

Sind Sie von der Arbeit als Schauspieler schnell zur Regie gekommen?

Das war ein paralleler Weg. Ich habe über zehn Jahre für das Berlinale Forum Filme untertitelt und für Regisseure gedolmetscht. 2002 habe ich ein großes Forumprogramm mit Fokus auf China mitorganisiert. Wir haben zwölf oder 13 Filme von chinesischen independent-Filmemachern gezeigt, die sehr viel über die chinesische Realität erzählt haben. Ich war sehr beeindruckt und dachte mir: Ich lebe hier schon so lange und kenne beide Kulturen sehr gut. Das wäre eine gute Funktion für mich: als Brücke zwischen den Kulturen.

Ich habe dann 2004 mit meinen eigenen Ersparnissen ohne Vorkenntnisse einen Film gemacht. Ich habe mir einen Kameramann gesucht, und wir haben zwei Wochen in Xi’an gedreht. Ich wollte mit den drei Protagonisten – drei Taxifahrerinnen – eine Geschichte über den Umbruch von Sozialismus zu Kapitalismus erzählen und wie Menschen dabei überleben. Die Premiere der „Taxischwestern von Xi’an“ war 2006 auf der dok Leipzig und etwas später lief der Film auf der idfa in Amsterdam, außerdem war er in Finnland, in Syrien, bei AlJazeera und sogar in Kuba im Fernsehen zu sehen.

Danach habe ich mit einer Bremer Produktionsfirma einen Film für ZDF und Arte über zwei chinesische Maler gedreht. Sie haben ihre Bilder nie verkauft und nie dem Staat untergeordnet, denn das ist ihrer Meinung nach die beste Voraussetzung für gute Bilder. Beide sind bereits sehr alt – fast 80 – und haben eine bescheidene Wohnung in Peking, die voll mit ihren eigenen Bildern ist.

Das sind so meine Geschichten. Geschichten von und über Menschen. Geschichten darüber, wie Menschen verschiedene Epochen der Geschichte erleben und überleben. Diese Schicksale interessieren mich. Da gibt es so viel zu tun, das schaffe ich in diesem Leben nicht mehr alles zu erzählen. Es gibt Bedarf bei den Menschen, ihre Geschichten mitzuteilen und es gibt auch den Bedarf, diese Geschichten zu hören, es muss nur jemand diese Geschichten erzählen, und darin sehe ich meine Aufgabe.

Wie sehen Sie die Situation heute, dass viele Filme auf Optik und kaum auf Inhalt setzen?

Sowas interessiert mich nicht. Ich habe auf der Berlinale auch Filme gesehen, da sitzt du eineinhalb oder zwei Stunden und siehst nur den Himmel, ja toll… Die pure Ästhetik ist halt auch eine extreme Form, aber nicht das, was ich machen will. Das Andere ist dann totale Unterhaltung, das will ich auch nicht. Die Leute verdummen doch! Jeder kann natürlich seine eigenen Filme machen, aber es ist eine Art Arroganz und Ignoranz gegenüber den Menschen um uns herum, wenn wir uns nicht mit den Problemen in der Welt auseinandersetzen.

Ich denke, dass wir gemeinsam eine Erkenntnis erlangen können, vielleicht sogar Weisheit. Ich habe „Taxischwestern“ anfangs vielleicht aus Anteilnahme gemacht, aber während der Interviews und des Schnitts habe ich gemerkt, dass ich enorm viel von diesen Frauen gelernt habe. Sie haben einen großen Optimismus, aber keinen blinden. Sie haben oft Probleme, manchmal sogar lebensbedrohliche Probleme, aber sie gehen mit einem Humor damit um, mit einer Courage, einer Zuversicht, ohne sich zu beklagen. Da frage ich mich: was ist das? In einer Podiumsdiskussion in Amsterdam meinte eine Person, dass das eine Kraft ist, die in uns Menschen seit Urzeiten drinsteckt: der Überlebenswille. Das fand ich eine gute Erklärung.

Wir alle zusammen – die Protagonisten, das Publikum und ich – gelangen durch den Film zu einer Erkenntnis. Das ist doch toll. Das motiviert mich auch für meine weitere Arbeit. Es ist eine unendliche Inspiration. Egal ob Reisbauer, Taxifahrer oder Lumpensammler, jeder hat einen Schatz an Geschichten und Weisheiten. Ein Banker ist letzten Endes nicht anders als ein Lumpensammler. Da brauche ich mir keine Sorgen machen, dass ich keine Ideen mehr habe.

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Bei Dreharbeiten für “John Rabe”

Haben Sie Projekte, an denen Sie gerade arbeiten?

Ich hatte drei oder vier Projekte und dafür auch Treatments geschrieben und Produzenten gefunden, aber am Ende ist es an den Fernsehredakteuren gescheitert – es wurde alles abgelehnt. Das ist halt das deutsche Fernsehen: Was man nicht kennt, wird nicht  gesendet. Sie haben zu große Angst, dass eine Produktion die erhofften Einschaltquoten nicht erreicht.

Ich wollte einen Film über die langjährige Ausbildung für die Pekingoper machen, ein sehr spannendes Feld, abgelehnt. Ich wollte einen Schulfreund begleiten, der auf seiner Fahrradtour chinesischen Bauern und Dorfbewohnern begegnet und als Blogger darüber schreibt, aber die Redakteure meinten, sie könnten es sich nicht vorstellen. Schade… es hatte alle aktuellen Probleme in China: Umwelt, Korruption, einen Blogger. Es ist aktuell wie nichts anderes!

Gibt es Projekte, die Sie in Zukunft gerne machen würden?

Vielleicht mache ich irgendwann wieder mit wenig Budget einen Film in Eigenproduktion. Dann habe ich auch ein Ergebnis, und vielleicht stelle ich es dann auf Youtube rein, fertig! Das ist viel, viel besser, als sich mit diesen Leuten ‘rumzuärgern. [lacht]

Ein Traumprojekt wäre für mich, aus den vielen erzählten Geschichten meiner Taxifahrerinnen einen Spielfilm machen, inzwischen vielleicht sogar zwei Teile: einen über sie und einen weiteren über ihre Kinder. Allein innerhalb dieser Generation ist so viel passiert in China. Dort sind zehn Jahre wie ein Jahrhundert hier. Daher könnte man das gut in zwei Teilen erzählen. Davon träume ich…

Im Text verwendete Eigennamen und Wörter mit Zeichen und Pinyin oder Erklärung:

Modellopern: 样板戏 yàng bǎn xì

Unter drei Leuten kann immer einer dein Lehrer sein: 三人行,必有我师 sān rén xíng, bì yǒu wǒ shī

dok Leipzig und idfa sind anerkannte Festivals für Dokumentarfilme.

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sinonerds-Autor*in

Johannes Heller

Jojo studierte Chinastudien und Friedensforschung in Berlin, Nanjing und Brisbane. Akademisch steht für ihn Chinas aktuelle Rolle als regionaler Akteur in Asien im Mittelpunkt. Nebenher entdeckt er gerne neue Musik und Podcasts.

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