Dieser Artikel ist ein Beitrag aus unserem sinonerds Spotlight: Chinesischer Film. Auf unserer Übersichtsseite gibt es nochmal alle Artikel und Interviews zum Nachlesen, Nachschlagen oder Rumstöbern.
Unter Mikro-Filmen stellen wir uns höchstens ulkige Gadgets aus alten Agententhrillern vor. Doch diese Übersetzung des chinesischen Wortes 微电影 (wēi diàn yǐng) beschreibt in diesem Fall eine explosionsartig wachsende Filmgattung der Volksrepublik China, welche seit ihrem Entstehen vor einigen Jahren gegen die Barrieren innerhalb der streng kontrollierten chinesischen Medienlandschaft ankämpft.
Im Grunde genommen sind Mikro-Filme nichts anderes als Kurzfilme – manchmal nur wenige Minuten lang, manchmal eine knappe Dreiviertelstunde. Der Unterschied zum etablierten großen Bruder liegt in der Art, wie sie vertrieben werden. Während Filme vor der Aufführung in Kinos, auf Festivals oder im Fernsehen von der Behörde für Medienkontrolle (State Administration of Radio, Film, and Television, kurz SARFT) mehrfach genehmigt werden müssen, laden Filmemacher ihre Mikro-Filme einfach auf eines von Chinas Online-Videoportalen hoch und haben so ein aus mittlerweile rund 600 Millionen chinesischen Internetnutzern bestehendes potentielles Publikum.
Das Internet ist hier natürlich das entscheidende Instrument, ohne welches das Medium Mikro-Film nie hätte entstehen können. Ab dem Jahr 2010 wurde das chinesische Netz erheblich schneller, Nutzerzahlen wuchsen, Smartphones und schnelle 3G-Netzwerke ermöglichten Video-Streaming. Videoplattform-Marktführer Youku sah die große Chance und veröffentlichte in Kooperation mit dem Duo 筷子兄弟 (Kuài Zi Xiōng Dì, Die Essstäbchen-Brüder) den 43-minütigen Film 老男孩 (Lǎo Nán Hái, englischer Titel: Old Boys). Die zwei Protagonisten, Männer mittleren Alters, wagen einen letzten Versuch ihren längst aufgegebenen Jugendtraum vom Musiker-Ruhm durch die Teilnahme an einer großen Castingshow aufleben zu lassen. Der Film, gefühlvoll umgesetzt, schlug ein wie eine Bombe und erreichte in kürzester Zeit achtstellige Aufrufzahlen. Doch er brachte noch etwas anderes in Bewegung: Aufstrebende Filmemacher sahen im Internet neue Chancen, griffen zu den Kameras und drehten, was das Zeug hielt. Der Mikro-Film war geboren.
Geburt eines neuen Genres
Kein Markt eignete sich hierfür so gut wie die Volksrepublik: Dank der Kombination aus monotonem Staatsfernsehen, der Vorliebe fürs Filmeschauen auf mobilen Geräten und oft stundenlangen Arbeitswegen oder Wartezeiten schossen Mikro-Filme aus dem Boden wie der Bambus nach dem Frühlingsregen. Allein 2012 wurden mehrere Tausend solcher Videos veröffentlicht. Chinas medienhungrige Netizens sahen sich auf einmal mit den Geschichten trotziger Neo-Punks oder intersexueller Prostituierten konfrontiert.
Vieles war inhaltlich oder künstlerisch Neuland – zuvor wären die allermeisten der jungen Regisseure irgendwo zwischen staatlichen Genehmigungen und Finanzierungsschwierigkeiten steckengeblieben. Die Hoffnung mit dem eigenen Mikro-Film groß rauszukommen wurde zur treibenden Kraft.
Doch wo ein Hype ist, da sind sofort auch die langen Finger der chinesischen Werbeindustrie, die es zur Gewohnheit hat, jeden Trend weit über seine Lebensdauer hinaus leerzusaugen. Nicht nur quantitativ nahmen die mit Product-Placement übersähten und inhaltlich deutlich durch Markenbotschaften beeinflussten Filme zu, auch ließen ihre finanziellen Mittel die Filmstudenten mit ihren Taschengeld-Budgets im Regen stehen. Ebenso schnell wurden Festivals für Mikro-Filme ins Leben gerufen, viele davon mindestens als fragwürdig einstufbar, was ihre Unabhängigkeit anging. Wie ein Jogger mit zu hohen Ambitionen kam mit der üblichen leichten Verspätung dann auch SARFT angehechzt und setzte Mitte 2012 prompt noch Richtlinien für Mikro-Filme auf. Die Affinität der chinesischen Videoportale zu staatlichen Institutionen (alle haben Redaktionen mit Parteiattachés) macht die Durchsetzung solcher Vorgaben und der in ihnen definierten Zensurkriterien relativ einfach.
Geplatzte Träume?
Natürlich kann man nicht sagen, dass der Traum vom Mikro-Film in China geplatzt ist. Regisseure sind immer noch hochmotiviert, Konzerne voller Hoffnung angesichts geschickt getarnter Werbung und Berufspendler immer noch äußerst gelangweilt. Allerdings ist die Landschaft nur drei Jahre nach dem ersten großen Hit schon so übersättigt, dass Mikro-Film kaum mehr als ein weiteres Buzzword ist. Eine rebellische Alternative oder eine Lücke im System ist er jedenfalls nicht mehr.
Gewissermaßen erging es den Mikro-Filmen wie Chinas Mikro-Blogs: Nach einer kurzen Periode der relativen Freiheit und Frische trat die Kommerzialisierung und schließlich systematische Erfassung und Kontrolle durch den Staat ein. Was aber trotz allem in beiden Fällen bleibt, sind freigeräumte und von der Bevölkerung anerkannte Wege für die Diversifikation der öffentlichen Meinung in einem Land, das die Möglichkeiten dieses mächtigen Konzepts fleißig lernt. Mikro-Filme haben das Spektrum der in China verfügbaren filmischen Werke und der in ihnen angesprochenen Themen und Probleme deutlich erweitert – und es sieht nicht so aus, als würden sie aufhören, das auch in Zukunft zu tun.