Beim British Film Institute in London gibt es oft faszinierende Filmvorstellungen, die Chinas Talent auf die Bühne bringen. Carolynn rezensiert drei chinesischsprachige Dokumentarfilme: Blossom With Tears, Crazy Calligraphy und A Rolling Stone.
Im westlichen Verständnis der chinesischen Filmindustrie ist eine Annahme weit verbreitet: ‚Zwischen Staat und kritischen Regisseuren herrscht in China Konfrontation.‘ Leider wird diese Vermutung selten auf die Probe gestellt. Independentfilme, die seit den ‘90er Jahren auf dem Aufstieg sind, stellen diese einseitige Analyse in Frage, und haben als Impuls für Diskussion und wesentliche Veränderungen in der chinesischen Kinowelt gesorgt. Viele dieser Filme sind Beweis dafür, wie es einigen unabhängigen Regisseuren in den letzten zwei Jahrzehnten gelungen ist, einen Platz für kreativen Ausdruck außerhalb der staatlichen und marktgelenkten Filmkultur zu erschaffen.
Das Chinese Visual Festival (CVF) in London tut seinen Teil, um die westliche Einstellung gegenüber der chinesischen Filmindustrie zu verändern. Zusammen mit dem British Film Institute (BFI) organisieren sie während des ganzen Jahres Vorführungen von sowohl unabhängigen wie auch kommerziellen Filmen aus der sinofonen Welt. Dadurch lassen sie ein internationales Publikum kreatives Talent aus China, Taiwan, Hong Kong, Singapur und der chinesischen Diaspora entdecken, und auch Chinesen über ihre Heimat reflektieren. Ende letzten Monats organisierten CVF und BFI einen Dokumentarfilmtag, an dem drei sehr aufschlussreiche Filme gezeigt wurden. Die möchte ich nun etwas genauer vorstellen.
Blossom With Tears (花朵 huā duǒ), Jin Huaqing, China 2013
Die Werke von Jin Huaqing fallen in die Kategorie Independentfilme. Jin arbeitet als Regisseur beim Zhejiang Satelliten-TV und wurde schon mehrmals auf internationalen Filmfesten ausgezeichnet. Zu seinen anerkanntesten Filmen gehört Blossom With Tears: Ein außerordentlich bewegender Dokumentarfilm (der 2012 den renommierten UNICEF-Preis erhielt), welcher das harte Leben von zwei Schülern einer Akrobatikschule in Hebei verfolgt. Yuan und Xiang, wie viele Kinder aus ihrem ländlichen Umfeld, verkörpern eine Geschichte des Leidens und Überlebens. Tagtäglich trainieren sie bis zur Erschöpfung, um nicht nur ihr akrobatisches Können zu verbessern, sondern auch um die Erwartung ihrer Eltern zu erfüllen, deren Träume von einer besseren Zukunft oft auf den Schultern ihrer Kinder liegen.
Während Sport und Akrobatik für viele für Gesundheit und Spaß stehen, wird das Training an dieser Schule todernst genommen. Die Qual, die damit einhergeht, sieht man spätestens in einer Szene, in der Xiang sechs Minuten lang einen Handstand halten muss. Wir sehen, wie die Jungs fernab von Zuhause um ihre Kindheit gebracht werden. Jin Huaqing schafft es nicht nur, das Elend seiner Protagonisten zu erfassen, sondern er untersucht auch die Gründe warum Yuan und Xiang die Akrobatikschule besuchen: Sie wurden vor allem von ländlicher Armut getrieben. Der Film fokussiert daher nicht nur das tragische Leben dieser zwei Kinder, sondern bietet einen weiteren Blick auf soziale Probleme im modernen China, für die es leider keine einfache Lösung gibt.
Crazy Calligraphy 瘋顛狂書道館, Lu Adiong, Taiwan 2012
Lu Adiong kommt aus der Metropole Taipei und hat schon mit vielen künstlerischen Medien experimentiert. Er war früher Geigenspieler in einem Sinfonieorchester und Gitarrist in einer Rockband. Heutzutage widmet er seine Zeit überwiegend dem Filmemachen und der Musikkomposition. Sein eigener künstlerischer Hintergrund ist vielleicht ein Grund dafür, dass auch in seinen Filmen oft kreative Menschen im Blickpunkt stehen, wie in Crazy Calligraphy.
Der Film handelt von einem Mann namens Kesan, der sein Leben hingibt, die sterbende Kunst der chinesischen Kalligrafie wieder zu beleben. Seine “Crazy Calligraphy Class” läuft schon seit 15 Jahren kostenlos in einem örtlichen Tempel. Kesan sprudelt lässig Gedichtsverse und Literaturzitate hervor und sieht sich selbst als höchst intellektuell, ähnelt aber eher einem ekzentrischen Rockstar. Seine Frau und Tochter akzeptieren ihn so wie er ist, halten ihn aber gleichzeitig für unheilbar verrückt. Seine schillernde Persönlichkeit ist definitiv ein unterhaltsames Thema für einen Dokumentarfilm und Lu Adiong schafft es dadurch, einen interessanten Blick auf den Wandel traditioneller Aktivitäten in der heutigen Zeit zu werfen.
A Rolling Stone 築巢人, Shen Ko-shang, Taiwan 2012
Für diesen außergewöhnlichen Film erhielt Shen Ko-shang 2013 den Grand Prize beim Taipei International Film Festival. Ko-shang interessiert sich für einzigartige Charakterentwicklungen, welche neben dem Erwachsenwerden in seinen Filmen oft zu einem Leitmotiv werden.
In diesem Werk betrachtet der erfahrene Regisseur die Beziehung zwischen einem alleinerziehenden Vater und seinem autistischen Sohn. Ihr Beisammensein wird oft von einer Art Hassliebe geprägt. Sie verbringen jede Sekunde gemeinsam, basteln Türme aus buntem Papier, sammeln Muscheln und Schnecken und malen geometrische Bienennester, doch gleichzeitig muss der Vater schmerzvoll auf seine eigenen Träume und Ziele verzichten, um für seinen Sohn da zu sein. Obwohl er am Ende seiner Geduld und zutiefst erbittert ist, widmet er alle Kraft, die ihm noch verbleibt, seinem ewigen Kind.
Alle drei Filme dienen als Beweis dafür, dass es auch in der sinofonen Welt eine bewegende und kreative unabhängige Filmindustrie gibt, welche die Möglichkeit hat, außerhalb von traditionellen Denkmustern gesellschaftliche Themen anzusprechen. Ich persönlich fand Blossom With Tears besonders aufschlussreich, da im Publikum eine Frau saß, die selber eine Schülerin an solch einer Akrobatikschule war, und noch heutzutage an den körperlichen Folgen des intensiven Trainings leidet. Völlig mitgerissen wünschte sie sich, dass solche Filme, die auf dem Land gedreht werden, nicht nur in den gebildeten Kreisen der Stadtbewohner landen würden, sondern auch vor Ort eine Wirkung auslösen könnten.
Ich besuche immer wieder die chinesischen Filmvorführungen im BFI, da es auch jedes Mal eine Gelegenheit ist, einige der renommiertesten China-Experten live zu erleben. Wer sich für die chinesische Filmindustrie interessiert, ist wahrscheinlich mit der Arbeit von Chris Berry und Victor Fan vertraut, die beide oft als Sprecher eingeladen werden und Publikumsfragen beantworten. Auch die Regisseure werden oftmals gebeten teil zu nehmen. Letztes Jahr organisierte CVF ein öffentliches Gespräch mit Jia Zhangke, und später im Jahr war Wu Wenguang (der sogenannte “Vater des chinesischen Dokumentarfilms”) bei einer seiner Filmvorführungen persönlich anwesend.
Wer die Möglichkeit hat, nach London zu reisen, sollte sich unbedingt das chinesische Filmprogramm beim BFI anschauen. Das 5. Chinese Visual Festival fängt dieses Jahr am 8. Mai an, also können die großen Fans unter euch schon mal anfangen nach Billigflügen zu suchen.
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