Während der letzten Monate hat wohl jeder mitbekommen, dass in Taiwan etwas los ist. Berichte von Studentenunruhen und gewalttätiger Polizei überschwemmten uns regelrecht auf Facebook, aber auch in allen Nachrichten und Zeitungen konnte man davon lesen.
Von 18. März bis zum 10. April fand in Taiwans Hauptstadt Taipeh die sogenannte Sonnenblumen-Bewegung statt. Sie wurde von Studenten und Bürgerinitiativen initiiert und richtete sich gegen ein wirtschaftliches Rahmenabkommen unter dem 2009 unterzeichneten ECFA Handelsabkommen mit der Volksrepublik China. Dieses Rahmenabkommen, was vor allem Vorteile für den Dienstleistungssektor vorsah, wurde – und das war der ausschlaggebende Punkt für den Protest – von der führenden Partei Kuomintang bei der Legislative ohne ausführliche parlamentarische Diskussion verabschiedet.
Studenten und Opposition sahen in der Unterzeichnung des Abkommens einen Ausverkauf taiwanischer Interessen an China. Seit dem Ende des chinesischen Bürgerkrieges vor 60 Jahren ist es das erste umfassende Handelsabkommen, das mit China geschlossen werden sollte, und ist in den Augen vieler Taiwanesen ein erster Schritt in Richtung Verlust von Unabhängigkeit. Vor allem, da es kein Geheimnis ist, dass China eine Wiedervereinigung anstrebt. Laut jüngstem Pentagon-Bericht über Chinas militärische Stärke sind übrigens immer noch zwischen 1050 und 1150 Raketen auf Taiwan gerichtet.
Die 24-tägige Besetzung des Parlaments führte letztlich dazu, dass der Abkommensentwurf jetzt Artikel für Artikel einer Revision unterzogen werden muss. Ein Teilsieg zumindest für die Bewegung. Oder ein Anfang, wie die taiwanische Studentin Nai-fei Wu, eine der Organisatorinnen des Solidaritätsprotests vom 30. März am Berliner Alexanderplatz, sagt.
sinonerds: Was ist Deine Geschichte in der Sonnenblumen-Bewegung?
Nai-fei Wu: Ich habe mich schon seit letztem Juni intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt und die Nachrichten verfolgt. Aber seit dem 17. März, als die Unterzeichnung bekannt wurde, habe ich begonnen mich zu engagieren. Ich ging sofort online und sah, dass taiwanische Studenten überall auf der Welt die selben Bedenken hatten wie ich, und sich auch Sorgen über dieses Abkommen machten.
Ich nahm an einer weltweiten Übersetzungsgruppe im Internet teil, um die Nachrichten in verschiedene Sprachen zu übersetzen. Da mein Deutsch nicht so gut ist, war meine Hilfe eher gering. Als einer meiner Freunde auf Facebook schrieb, “Wir sollten einen Protest organisieren und den Leuten in Taiwan unsere Unterstützung zeigen, auch um internationale Aufmerksamkeit zu erregen”, war ich sofort dabei. Zu diesem Zeitpunkt waren wir nur zu dritt aber wir wuchsen sehr schnell zu einer Gruppe von 40 Leuten.
Es gab auch Proteste taiwanischer Austauschstudenten in den USA und England. War das vor oder nach Eurem Protest in Berlin?
Naja, alle diese Proteste entstanden ungefähr zur selben Zeit. Es gab so viel Austausch online, dass viele dieser Ideen – wie unsere Solidaritätsdemonstrationen mit live Übertragung – mehr oder weniger gemeinsam entstanden. Durch das Internet kann heute rasend schnell ein weltweiter Protest entstehen.
Waren nur Taiwaner an der Organisation beteiligt?
Eigentlich schon, ja. Wir hatten einige Deutsche, die uns mit Übersetzungen geholfen haben, aber hauptsächlich waren wir nur Taiwaner.
Wie habt ihr Euch organisiert?
Wir hatten drei Gruppen: Eine regelte bürokratische Anträge und solche Dinge, eine waren Übersetzter, und eine Gruppe war für Medien und Werbung verantwortlich. Nach kurzer Zeit wurde alles aber viel größer und jeder half wo er konnte.
Als wir uns nach einer Woche dafür entschieden, die Demonstration auszuweiten, luden wir auch Leute ein, um kurze Reden zu halten. Insgesamt konnten wir fünf Taiwaner und einen Deutschen dafür gewinnen. Zufällig haben wir auch einen Deutschen in einem Kaffeehaus getroffen, der gut Chinesisch konnte, und dann unser Moderator wurde.
Bist Du schon lange politisch aktiv?
Ja, bin ich. Meine beiden Eltern sind politisch sehr interessiert und engagiert, daher wurden politische Themen in unserem Haus immer offen diskutiert. Als ich 20 Jahre alt war, gab es in Taiwan eine Bewegung namens Strawberry Movement, was sozusagen der Anfang meiner politischen Aktivität war. Ich war zu dieser Zeit involviert in „sit-ins” und einem Marsch, aber nicht in die Organisation der Bewegung.
Danach habe ich bei Atomprotesten mitgemacht und habe als Freiwillige in einer „transformative justice NGO” mitgearbeitet. Dort habe ich auch mehr über Demokratisierung in Taiwan gelernt, was in unserer Schulbildung komplett ausgeklammert wird.
Außerdem war ich noch an einer eigentlich geheimen Aktion beteiligt (lacht). Wir organisierten eine Chiang Kai-Shek Gedenkfeier, mit der wir sarkastisch darauf aufmerskam machen wollten, dass noch überall in Taiwan Statuen von ihm stehen, wie von einem Helden. Leider hat das nicht so gut funktioniert.
Würdest Du sagen es gibt viel politische Beteiligung in Taiwan?
Auf jeden Fall. Ich glaube, der Auslöser für die Bewegung war nicht nur dieser unrechtmäßig unterschriebene Vertrag; das zentrale Problem ist die Situation von China und Taiwan. Wir in Taiwan haben eine kollektive Angst davor, unser Land an China zu verlieren. Vor allem seitdem die Regierung unter Präsident Ma (馬英九) eine viel stärkere pro-China Position einnimmt, hat sich unsere Angst verstärkt.
Meiner Meinung nach ist diese Bewegung also weniger fokussiert auf diesen einen Handelsvertrag. Es ist vielmehr eine Bewegung, die sagt: Wir wollen selbst bestimmen, ob wir uns an China annähern oder nicht.
Existiert diese kollektive Angst nur unter jungen Leuten? Wie sieht das die ältere Generation?
Unter der älteren Generation gibt es eine Teilung zwischen den „Urtaiwanern“ und den Chinesen, die Chiang Kai-shek 1949 vom Festland nach Taiwan gefolgt sind. Die haben natürlich noch eine starke emotionale Bindung zu China und empfinden sich auch immer noch als Chinesen. Ihrer Meinung nach ist das „wahre China“ von den Kommunisten eingenommen und verfälscht worden.
Unter der jüngeren Generation sind die Meinungen völlig anders. Wir sind in einem freien Taiwan aufgewachsen und genießen seine Demokratie (auch wenn es heute schwieriger wird). Uns sind die Unterschiede zwischen China und Taiwan sehr bewusst.
Was für Unterschiede das sind, wirst Du im zweiten Teil des Interviews am Mittwoch erfahren!
Mehr Informationen zur Bewegung in Deutschland findet ihr auf ihrer Facebook-Seite und auf ihrer Webseite.