Auf der ganzen Welt sind ethnische Minderheiten zahlreichen Vorurteilen sowie sozialen Einschränkungen durch eine Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt. So auch in China und Taiwan. In China gibt es offiziell 56 anerkannte Volksgruppen, von denen die Han (汉) mit über 90 Prozent die Bevölkerungsmehrheit stellen. Die übrigen 55 Volksgruppen werden als nationale Minderheiten bezeichnet (少数民族). In Taiwan gibt es neben der dominanten Bevölkerungsgruppe der Han (ca. 98%) 14 weitere anerkannte Gruppen, die als indigene Völker (原住民) zusammengefasst werden. Wir sinonerds waren neugierig, wie es sich mit der Situation der ethnischen Minderheiten in den beiden Ländern verhält, mit welchen Vorurteilen Angehörige von Minderheiten zu kämpfen haben und wie die Politik auf die Situation reagiert. Um Antworten auf unsere Fragen zu bekommen, wandten wir uns an den Sinologen und Ethnologen Prof. Dr. Thomas O. Höllmann.
In Deutschland gilt Prof. Dr. Thomas O. Höllmann, der an der Ludwigs-Maximilians-Universität München (LMU) lehrt, als einer der größten Kenner des alten Chinas. Er ist der Autor von Büchern wie „Das alte China: Eine Kulturgeschichte“ und „Schlafender Lotos, trunkenes Huhn: Kulturgeschichte der chinesischen Küche“. Was aber nicht alle wissen: Thomas O. Höllmann ist auch ein Experte für ethnische Minderheiten in der Volksrepublik China sowie auf Taiwan. Seit über 30 Jahren forscht er zu diesem Thema und ist Autor und Herausgeber zahlreicher Werke, die sich mit unterschiedlichen Volksgruppen befassen.
Im ersten Teil des Interviews geht es um die nationalen Minderheiten in der Volksrepublik China. Im zweiten Teil wendet sich Thomas O. Höllmann den ethnischen Minderheiten in Taiwan zu und beleuchtet die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten zur Situation auf dem Festland.
sinonerds: In der Volksrepublik China gibt es 55 anerkannte nationale Minderheiten, aber deutlich mehr Volksgruppen. Warum ist das so?
Thomas O. Höllmann: Diese Zahl 55 hat zunächst einmal nichts mit Ethnologie zu tun, sondern basiert vor allem auf einer politischen Entscheidung. Diese Entscheidung wurde zum großen Teil Anfang der 50er Jahre getroffen. Alles begann mit einem bürokratischen Verfahren bei dem sich Leute selbstständig als Minderheiten einschreiben konnten. Dabei kamen natürlich deutlich mehr Minderheitengruppen zusammen, als die Zahl 55 heute umfasst. Es folgte ein Auswahlprozess, mit dem aber viele Leute nicht glücklich waren. Nehmen wir beispielsweise die Zhuang: Hier wurden in einer Gruppe Menschen zusammengeführt, die einander nicht sonderlich wohlgesonnen waren. Oder die Naxi: Gruppen wie die Naxi und die Moso werden unter dem Namen Naxi zusammengefasst, obwohl sie unterschiedlicher gar nicht sein könnten. Die einen sind patrilinear ausgerichtet und verfügen über eine starke Machtverdichtung bei den Männern. Die anderen sind matrilinear ausgerichtet, das heißt die Erbfolge basiert auf der weiblichen Linie, und pflegen Formen des Zusammenlebens, die nicht jedem Chinesen sofort einleuchten. Gruppen also, die sich kulturell einander eigentlich wenig zu sagen haben. Manchmal entschieden Linguisten: Das ist eine Sprachfamilie, die schließen wir jetzt zusammen. Ob die betreffenden Gruppen das wollten, spielte keine Rolle. Bis zu einem gewissen Grad sind diese Zusammenfassungen sicherlich nachvollziehbar. Tausende Minderheiten sind eben nicht einfach zu handhaben.
Welche Vor- und Nachteile hat es, heute in China zu einer anerkannten nationalen Minderheit zu gehören?
Nachteile gibt es de jure eigentlich nicht. Es ist sicherlich so, dass Menschen, die den Minderheiten angehören, nicht nur das Wohlwollen der Machthaber in Anspruch nehmen können. Es ist zweifellos so, dass viele Han auf die Minderheiten herabschauen. Aber rein formal hat man Vorteile, wenn man einer Minderheit angehört, die anerkannt ist. Zwei Aspekte spielen hier meiner Meinung nach eine besonders große Rolle: Erstens die Familienstruktur, d.h. man ist nicht an Regelungen wie die Ein-Kind-Familie gebunden und zweitens der bessere Zugang beispielsweise zu Hochschulen und Universitäten durch Bonussysteme, also durch mildere Zugangsvoraussetzungen.
Mit welchen Vorurteilen haben Minderheiten in China zu kämpfen?
Zunächst einmal gibt es das klassische Vorurteil, dass Angehörige von Minderheiten einen niedrigeren sozialen Status haben sowie einen geringeren Status an Kultur, Zivilisation oder wie immer man das auch nennen möchte. Häufig wird das an der Schrift festgemacht. Viele der Minderheiten verfügen trotz eigener Sprache nicht über eine eigene Schrift, bzw. nur über Schriften, die ihnen entweder Anfang des 20. Jahrhunderts durch Missionare oder später dann durch die kommunistische Partei vermittelt wurden. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, wie die Mongolen, Mandschuren, Tibeter und Uiguren, die jeweils über eine jahrhundertealte Schriftkultur verfügen. Aber im Allgemeinen hält die Mehrzahl der Chinesen die Minderheiten für rückständig und geht davon aus, dass man den Menschen etwas Gutes damit tut, wenn man sie nicht mit ihren eigenen Traditionen leben lässt, sondern sie stattdessen dabei unterstützt, sich an den Lebensstil der Han anzupassen.
Neben dem Stereotyp der Rückständigkeit gibt es aber noch wesentlich unangenehmere Vorurteile, die beispielsweise die Sexualität betreffen. Der Grund für den enormen Sextourismus nach Südwestchina ist, dass sich Han-Männer aus Städten wie Beijing und Shanghai dort Lustbarkeiten erhoffen, die sie zu Hause nicht geboten kriegen. Das führt dazu, dass viele Prostituierte, mehrheitlich Han-Frauen, aus den Großstädten abwandern und sich in Yunnan als Angehörige von Minderheiten ausgeben – denn mit „Minderheiten-Sex“ lassen sich bessere Geschäfte machen.
Ein weiteres Vorurteil ist das Suchtverhalten, sowie die Infizierung mit Krankheiten wie AIDS. Dieses Vorurteil geht vor allem auf die Drogensituation in Südwestchina zurück, wo viele Minderheiten leben. Dort wurde in der Vergangenheit lange Zeit Opium angebaut, und auch heute spielt in Yunnan der Konsum von Drogen, insbesondere Heroin, noch eine große Rolle. Der Konsum geht einher mit einer großen Übertragungsrate von HIV, das dort in erster Linie über das Heroinbesteck, also die Spritzen, übertragen wird.
Ein anderes Vorurteil ist die Vorstellung, Angehörige von Minderheiten seien allesamt Separatisten. Dies lässt sich im Einzelfall natürlich nicht widerlegen. Es gibt unter den Uiguren Separatisten, ja, aber ich persönlich glaube, dass diese eine absolute Minderheit darstellen und das Separatisten-Argument häufig politisch instrumentalisiert wird. Auch ein Vorurteil: Angehörige von Minderheiten lassen sich nicht integrieren. Dieses Vorurteil basiert auf den Lebensgewohnheiten einiger nomadisierender Minderheitengruppen im nördlichen Steppenbereich, die sich mit ihren Herden über Grenzen – einschließlich Staatsgrenzen – hinweg orientieren, sowie von Gruppen im Südwesten Chinas, die ihre Dörfer immer wieder verlegen, sobald ihre Felder nicht mehr fruchtbar sind. Diese mangelnde Sesshaftigkeit mancher Gruppen, die nicht zum politischen System, insbesondere dem Hukou-System, passt, ist vielen Menschen in China ein Dorn im Auge.
Im Jahr 2013 gab es in China einen Regierungswechsel. Glauben Sie, dass sich die Minderheitenpolitik der Volksrepublik in den kommenden Jahren unter Xi Jinping ändern wird?
An dieser Stelle muss ich natürlich zunächst einmal Konfuzius zitieren, der gesagt haben soll: „Wie kann ich mich den Geistern zuwenden, wenn ich nicht einmal den Menschen zu dienen vermag?”. Das heißt: Wie soll ich die Zukunft verstehen, ohne dass ich die Gegenwart hundertprozentig sicher analysieren kann? Also, Prognose in aller Vorsicht… Ich glaube nicht, dass es eine große Änderung zum Guten geben wird. Ich habe eher den Eindruck, dass es in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren einen Rückschritt gegeben hat und dass die Aufbruchstimmung der 80er Jahre nicht mehr weiterträgt. Ich gehe auch davon aus, dass der Großteil der Bevölkerung eher zögernd dazu bereit ist, den Minderheiten größere Rechte zuzugestehen. Die Situation kann man gut mit der in Nordamerika vergleichen: Auch dort gibt es beim Universitätszugang Sonderklauseln, die Minderheiten bevorzugen und die von der weißen Mehrheit nicht immer gerne gesehen werden, weil anderen Studenten damit Studienplätze „weggenommen“ werden. Ähnlich ist die Situation in China, obwohl hier die Minderheiten in der Regel weniger in die erstrangigen Universitäten reindrücken, sondern eher in spezielle Universitäten oder Colleges, die in den Minderheitengebieten liegen.
Was die Reaktion der chinesischen Regierung auf die separatistischen Tendenzen einiger Minderheitengruppen angeht: Dass eines der Gebiete wie Xinjiang – das ja auch in sich selbst überaus heterogen ist – oder Tibet aus China heraus bricht, halte ich für höchst unwahrscheinlich. Das könnte ich mir nur vorstellen, wenn ganz China in irgendeiner Form nicht mehr der Einheitsstaat von heute ist. Aber für diese Annahme gibt es momentan überhaupt keine Grundlage.
Hier endet der erste Teil des Interviews. Teil II findest Du hier.
Chinesisch und Pinyin der im Text verwendeten Begriffe:
汉 Hàn: Die Han-Volksgruppe (ca. 92% der chinesischen Bevölkerung)
少数民族 shǎo shù mín zú: Minderheiten
原住民 yuán zhù mín: Indigene Völker
纳西 Nà xī: Die Naxi-Volksgruppe
壮: Zhuàng: Die Zhuang-Volksgruppe (mit 18 Millionen Menschen die zweitgrößte Volksgruppe nach den Han)
维吾尔 Wéi wú ěr: Die uigurische Volksgruppe
藏 Zàng: Die tibetische Volksgruppe