Heute möchte ich mich einem Phänomen widmen, das mich schon bei meinem ersten Aufenthalt in China verwundert hat und seitdem verfolgt: warum scheinen viele Chinesen eine natürliche Affinität zu Zahlen zu haben? Nun habe ich endlich eine Antwort gefunden, die eigentlich gar nicht so kompliziert ist.
Das Phänomen kann nur jenem Chinabesucher begegnen, der zumindest die Grundlagen der chinesischen Sprache beherrscht, denn es geht um die Zahlen und Nummern im Chinesischen. Typische Situationen sind etwa jene, in denen es darum geht, sich eine Telefonnummer bzw. einen Zahlencode einzuprägen: Chinesen reicht oft einen kurzer Blick auf eine 11-stellige Nummer um diese – zumindest kurzfristig für den Eintrag ins Telefonbuch – zu behalten. Viele kennen sogar ihre 16-stellige Bankkartennummer auswendig. Außerdem habe ich bisweilen noch keinen Chinesen kennen gelernt, der seine eigene Handynummer nicht auswendig konnte. In Deutschland ist es, gemäß meiner eigenen Erfahrungen, nicht unüblich, dass es auf dem Mobiltelefon einen Eintrag für die eigene Nummer gibt.
Wenn euch das nicht stichhaltig genug ist und ihr noch etwas an der Wirklichkeit dieses Phänomens zweifelt, könnt ihr es selbst mit folgendem Experiment ausprobieren! Lest die folgende Zahlenreihe laut vor: 4, 8, 5, 3, 9, 7, 6. Wendet dann den Blick vom Desktop ab oder schließt die Augen und versucht, euch für ca. 20 Sekunden die Sequenz einzuprägen, bevor ihr sie danach wieder laut vorsagt (nicht ablesen!). Amerikanische bzw. englische Muttersprachler können sich die Sequenz mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 50% perfekt einprägen, Chinesen hingegen liegen fast ausnahmslos richtig. (Dieses Ergebnis basiert auf Experimenten mit englischen Muttersprachlern. Da die deutsche und die englische Sprache beide dem westgermanischen Sprachzweig angehören, vermute ich, dass das es auch für unseren Sprachraum zutrifft.)
Naturtalent in Mathe?
Woran mag das liegen? Sind Chinesen intelligenter als wir? „Wahrscheinlich nicht“, schreibt Stanislav Dahaene in seinem Buch The Number Sense: How the Mind creates Mathematics, wohl eher liege es an der Kürze der Zahlworte in der chinesischen Sprache. Wenn wir versuchen, uns Zahlenfolgen einzuprägen, bedienen wir uns der sogenannten „phonologischen Schleife“, eine Art verbaler Gedächtniskreislauf, der Daten für nur zwei Sekunden halten kann. So sind wir gezwungen, die Zahlen immer wieder zu wiederholen, um sie aufzufrischen und langfristig abrufbar zu machen.
Genau hier liegt nun der Schlüssel zum Rätsel: Die chinesischen Zahlworte (1 bis 10) sind bemerkenswert kurz, die meisten können in weniger als einer Viertelsekunde ausgesprochen werden (z.B. „si“ für 4 und „qi“ für 7). Für die deutschen Äquivalente „vier“ und „sieben“ bedarf es ca. einer Drittelsekunde. Somit ergibt sich eine „Gedächtnislücke“ – zwischen englischem und chinesischen Zahlen-Kurzzeitgedächtnis – von etwa zwei Ziffern für jeden „Zwei-Sekunden-Kreislauf“ (Chinesen können innerhalb der zwei Sekunden der „phonologischen Schleife“ durchschnittlich 9 Ziffern auffrischen, Amerikaner hingegen nur 7). Das beste „Gedächtnis“ haben übrigens Chinesen im kantonesischen Sprachraum (Provinz Kanton in China und Hong Kong) mit einer Gedächtnisspanne von 10 Ziffern.
Rechnen wie von selbst
Die Kürze der Zahlworte ist nicht der einzige Vorteil, den chinesische Muttersprachler im Umgang mit Zahlen haben. Ein genauerer Blick auf die Konstruktion des chinesischen Zahlensystems offenbart eine fortgehende Regularität: Sind einmal die Zahlwörter von eins bis zehn gelernt, lässt sich der Rest anhand einer einfachen Regel erschließen (11 = zehn eins , 12 = zehn zwei, 13= zehn drei, 14= zehn vier… 20= zwei zehn, 21= zwei zehn eins, 22= zwei zehn zwei …usw.). Hier wird offensichtlich, dass die Struktur des gesprochenen chinesischen Zahlensystems übereinstimmt mit unserem geschriebenen arabischen Zahlensystem, das auf dem Dezimalsystem basiert.
Deutsche Kinder müssen sich mit einem recht irregulären, „gesprochenen Zahlensystem“ plagen. Sie lernen Zahlen per Reihe von 1-10, dann von 11-19, und schließlich die Zehnerstellen von 20-90. Es darf daher kaum verwundern, dass chinesische Kinder viel schneller zählen lernen. Das Ausmaß, in dem dieser Unterschied zu Tage tritt, ist nicht unerheblich: Ein vierjähriges chinesisches Kind kann in der Regel bis 40 zählen, amerikanische Kinder in diesem Alter können lediglich bis 15 Zählen, zudem erreichen Letztere die 40 meist nicht bevor sie fünf Jahre alt sind. Anders gesagt, fünfjährige chinesische Kinder sind ihren Gegenübern aus Amerika in der Beherrschung fundamentaler mathematischer Fähigkeiten um ein Jahr voraus.
Des Weiteren ist das chinesische System „transparenter“. Wenn ein deutsches Kind (>sieben Jahre) siebenundzwanzig und zweiunddreißig im Kopf addieren soll, so konvertiert es zunächst die Wörter zu Zahlen (27+32). Nur so kann es beginnen zu addieren: 7 + 2 = 9 und 20 + 30 = 50, was zusammen 59 ergibt. Bittet man aber ein chinesisches Kind, „zweizehnsieben“ und „dreizehnzwei“ zu addieren, so ist die nötige Gleichung bereits in diesem Satz enthalten, es bedarf keiner weiteren „Nummer-Konvertierung“. Es ist einfach: „fünfzehnneun“.
Anhand dieser Erkenntnisse ist es nachvollziehbar, weshalb Wissenschaftler der Meinung sind, dass unsere westlichen Zahlensysteme den asiatischen unterlegen sind. Unser Kurzzeitgedächtnis sei schlechter, Rechnungsprozesse dauerten länger, und die Erfassung des Dezimalsystems würde durch die Unregelmäßigkeiten der Zahlworte erschwert. Auch die Ergebnisse der Pisa-Studie scheinen diese Schlussfolgerung zu bestätigen: Im Bereich Mathematik stehen China, Singapur und Hongkong auf den ersten drei Plätzen.