Im ersten Teil unseres Pressespiegels haben wir die chinesische Perspektive auf die Ergebnisse der Bundestagswahl und die Jamaika-Gespräche zwischen Union, den Grünen und der FDP zusammengefasst. Siyuan und Arnaud haben für Euch chinesische Stimmen zum neuen Anlauf auf eine GroKo zusammengetragen.
Mit großer Neugier beobachtet Chinese National Radio 中央人民广播电台 (CNR) nicht nur den Verlauf der Koalitionsverhandlungen, sondern auch das Echo in den internationalen Medien. Selten war die deutsche Innenpolitik unter Angela Merkel so sehr von Belang für China wie zuletzt. Das verdeutlicht der Crashkurs in deutscher Politik für die chinesischen Leser, darunter Positionen, Kernthemen und Spitzenpolitiker von SPD, FDP und Grünen. Auch das ungeduldige Warten der europäischen Partnerländer und die sinkenden Umfragewerte für Angela Merkel aufgrund der verzögerten Regierungsbildung finden hier große Beachtung.
Showdown in Slow-Mo
Die Idee einer Minderheitsregierung wird sehr kritisch gesehen. Diese sei verglichen mit Neuwahlen zwar das kleinere Übel, berge aber das Risiko einer handlungsunfähigen Regierung. Sollte sich Merkel für die Minderheitsregierung entscheiden, so CNR, dann nur um Kanzlerin zu bleiben.
Die gescheiterten Jamaika-Verhandlungen hätten nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa zum zeitweiligen Stillstand gezwungen. Dieser bereite auch China Sorgen. Eine Neuwahl würde CNR zufolge aufgrund der hohen Wahlbeteiligung im September und den vielen überzeugten WählerInnen wenig am Gesamtergebnis ändern und nur das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger weiter untergraben. Deshalb schaue man erwartungsvoll auf die angekündigten Gespräche mit der SPD.
Im Übrigen seien die zwischenzeitlichen Kursschwankungen des Euro im Zuge des politischen Stillstands zwar unschön, stellten aber keine größere Gefahr gar, auch wenn die Regierungsbildung noch auf sich warten lässt.
Bloß nicht Neuwahlen…
„Die Wahl zu gewinnen war einfach, eine Koalition zu bilden hingegen ist schwer,“ kommentiert die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua. Nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche schätzt sie Neuwahlen als eher unwahrscheinlich an, weil sie mit zu vielen Unsicherheiten verbunden wäre. Ein erneuter Gang zur Wahlurne gefährde die allgemeine politische Stabilität der Bundesrepublik, außerdem sei damit zu rechnen, dass den etablierten Parteien ein weiterer Stimmenverlust drohe – während die AfD stärker werden könnte.
Um all das zu vermeiden, sieht Xinhua nur zwei Möglichkeiten: Entweder müsse die Union eine Minderheitsregierung mit der FPD oder den Grünen eingehen oder eben wieder mit der SPD eine Große Koalition bilden. Da die SPD eine Koalition zunächst abgelehnt hatte, läge die Verhandlungsmacht nun in der Hand der Sozialdemokraten.
…oder könnte Merkel in einer neuen Wahl etwa doch dazu gewinnen?
Hui Feng Xu von der Xinwen Chenbao (新闻晨报) hingegen sieht Neuwahlen als den einzigen Weg, die Kanzlerin in ihrer angeschlagenen Situation zu stärken. Trotz Prognosen einer geringeren Wahlbeteiligung und einer potentiellen Stärkung der extremen Rechten geht sie davon aus, dass Merkel nach einer Neuwahl möglicherweise eine bessere Grundlage zur Regierungsbildung hätte. Im Allgemeinen, so argumentiert sie, gingen die Wähler von Klein- und Splitterparteien häufiger wählen.
Den trägen, aber auf Stabilität und Kontinuität bedachten CDU-Wählern und Merkel-Sympathisanten würde das gegenwärtige Koalitionsdilemma als Weckruf dienen, sodass im Fall von Neuwahlen mit einer erhöhten Wahlbeteiligung der konservativen Mitte zu rechnen sei. Die vergangenen zwölf Jahre unter Merkels Führung seien schließlich von Stabilität, wirtschaftlichem Aufschwung und sinkenden Arbeitslosenzahlen geprägt gewesen.
Zwar gebe es ein Szenario, in dem die Führung Angela Merkels ihre langjährige Regierungsführung aufgeben müsse – verglichen wird sie hier mit Zimbabwes kürzlich zum Rücktritt gezwungenen, 93-jährigen Präsidenten Mugabe –, die zu Gesprächen erweichte SPD gäbe ihr jedoch hinreichende Chancen, an der Macht zu bleiben. Mit Neuwahlen, so mutmaßt Hui, könnte Merkel allerdings vielleicht sogar Wahlergebnisse alter Größe erlangen.
Die GroKo steht und fällt mit der Flüchtlingspolitik
Der staatliche Nachrichtensender CCTV wähnte grundlegende Meinungsunterschiede bezüglich der Flüchtlingspolitik und den Widerstand innerhalb der SPD als Hauptknackpunkte für die Sondierungsgespräche zwischen Union und SPD.
Das Fehlen einer Regierung behindere das außenpolitische Agieren der Bundesrepublik. Angesichts ihrer wichtigen Rolle auf dem internationalen Parkett sei das ein dringendes Problem; so könne Deutschland den Aufruf von Frankreichs Präsident Macron zu umfassenden EU-Reformen nicht nachkommen. Und in Zeiten von nationalistischen Alleingängen der US-Regierung benötigten die westlichen Länder Deutschland mehr denn je in einer Führungsrolle. Zugleich sei die Entwicklung der transatlantischen Beziehungen von globaler Relevanz. Deren Fortführung kann aber erst die zukünftige Bundesregierung mitbestimmen.
Krise ja, Alternative nein
Wie auch im ersten Teil unserer Presseschau wird deutlich, welche maßgebliche Rolle die chinesischen Medien Deutschland auf globaler Ebene beimessen: sowohl die EU als auch die Volksrepublik seien als Partner Deutschlands an einer raschen Regierungsbildung interessiert, damit die Bundesrepublik auf dem internationalen Parkett wieder in Erscheinung treten kann. Die von Frankreich vorgeschlagenen EU-Reformen, eine Vertiefung der chinesisch-deutschen Beziehungen, besonders angesichts des zunehmenden Isolationskurses der USA, sind nur einige der dringenden Themen, der sich die zukünftige deutsche Regierung annehmen müsse.
Uneinigkeit gibt es bezüglich der Form der neuen Regierung, es gibt sowohl Stimmen für eine Große Koalition als auch für eine Minderheitsregierung, wobei erstere eher befürwortet wird. Einig sind sich die chinesischen Beobachter in ihrer Befürwortung weiterer vier Jahre mit Angela Merkel als Kanzlerin. Eine Alternative zur in China beliebten Bundeskanzlerin sehen die chinesischen Medien nicht, die zähe Regierungsbildung wird jedoch auch im Reich der Mitte als bisheriger Tiefpunkt ihrer politischen Führung eingestuft.
Nützliche Vokabeln rund um die Wahl
Bundestagswahl- 联邦议院选 Liánbāng yìyuàn xuǎn
Jamaika-Koalition- 牙买加联盟 Yámǎijiā liánméng
Koalitionsverhandlungen – 组阁谈判 Zǔgé tánpàn
Kanzler*in – 总理 Zǒnglǐ
Regierungspartei- 执政党 Zhízhèngdǎng
Oppositionspartei- 反对党 FǎnduìdǎngUnion (CDU/CSU)- 基督教民主联盟 Jīdūjiào mínzhǔ liánméng(kurz:基民盟 Jīmín méng)
Sozialdemokratische Partei (SPD)- 社民党 Shèmíndǎng
Freie Demokratische Partei (FDP)- 自民党 Zìmíndǎng
Bündnis 90/Die Grünen- 绿党 Lǜ dǎng
Alternative für Deutschland (AfD)- 德国选择党 Déguó xuǎnzé dǎng(politisch) konservativ – 保守 (~e Gesinnung- 的思想 )
rechtsextrem-极右 Jíyòu
(politisch) liberal- 自由 Zìyóu
(politisch) progressiv- 进步 Jìnbù
linksextrem-极左 JízuǒRechtspopulismus- 右翼民粹主义 Yòuyì míncuì zhǔyì
Linkspopulismus- 左翼民粹主义 Zuǒyì míncuì zhǔyì
Titelbild credit: “Signing the guest book” by European Parliament shared under a Creative Commons (BY-NC-ND) license.