Chinas Blick auf Deutschlands Regierungsfindung: Hoffen auf Merkel

Der sinonerds-Pressespiegel zur deutschen Regierungsbildung nach den Wahlen 2017 - Teil 1

Siyuan und Arnaud werfen einen Blick auf die Meinungen in chinesischen Medien über den Ausgang der deutschen Bundestagswahlen 2017, die ersten Koalitionsverhandlungen und Angela Merkel als Person.

Die Bundestagswahl am 24.September scheint schon sehr lange her zu sein. Da Deutschland aus chinesischer Sicht sowohl in der EU als auch global eine wichtige Rolle spielt, wird die Regierungsbildung in China aber weiterhin mit großem Interesse verfolgt. In diesem ersten Teil fassen wir kurz zusammen, wie Medien aus der Volksrepublik die Ergebnisse der Bundestagswahlen und die Jamaika-Verhandlungen kommentiert haben.  In der kommenden Presseschau werfen wir einen Blick auf die chinesische Perspektive auf den erneuten Anlauf für Gespräche zwischen Union und der SPD nach dem Scheitern von Jamaika.

Die Onlineausgabe der chinesischen Global Times (球网), welche wie die People’s Daily (人民日报) unter staatlicher Kontrolle steht, sieht die hohe Wahlbeteiligung, welche mit 76,2% ungefähr 5% höher als bei den letzten Bundestagswahlen 2013 war, als einen Beleg für ein stark ausgeprägtes politisches Interesse in der deutschen Bevölkerung. Allerdings spiegelten die Wahlergebnisse auch die Spaltung in der Gesellschaft wider, was sich mit dem Aufkommen von politisch extremen Gruppen – gemeint ist die AfD – und der Stimmenwanderung von den Volksparteien zu den kleineren Parteien zeige.

Der Zuspruch, den Angela Merkel trotz ihrer Flüchtlingspolitik erfuhr, läge “an dem stabilen Wirtschaftswachstum und der niedrigen Arbeitslosenrate während ihrer zwölfjährigen Amtszeit.” Dafür hätte die Kanzlerin still und heimlich die Lorbeeren eingefahren – und das obwohl die SPD in der dritten Merkel-Regierung das Wirtschafts- und das Arbeitsministerium führte.

Screenshot Chinese paper

Screenshot von der 人民日报 – Die Artikelüberschrift heißt “Deutschlands Parlamentswahlen: Wandel während der Stabilität”

Die Wiederwahl Merkels wertet die Zeitung als ein wichtiges Zeichen der Stabilität und Kontinuität und betont, dass die Außenpolitik unter der Kanzlerin stets eine zentrale Rolle eingenommen hat. Folglich sei es für die deutsch-chinesischen Beziehung nachrangig, welche Partei am Ende das Außenministerium führt. Gerade in Hinsicht auf Wirtschaft, Politik und globalen Herausforderungen würde Merkel die Fortsetzung der deutsch-chinesischen Zusammenarbeit sicherstellen. Positiv sei zudem, dass Merkel die „Ein-China-Politik“ unterstütze. Obendrein gewinne diese Allianz an besonderer Bedeutung angesichts der gedämpften transatlantischen Beziehungen.

Eine wie keine

Cui Hongjian von der englischsprachigen Global Times sieht das Wahlergebnis als der besonderen Ausgangslage Deutschlands, darunter Merkels „charismatischer Führung“, geschuldet und nicht auf Europa übertragbar. Eine Interpretation, die in europäischen Kommentaren nicht unbedingt Konjunktur hat.

Die AfD und Die Linke wirft Cui kurzerhand in einen Topf: die extremen Lager von Links und Rechts seien mit ihren über 20 Prozent eine der größten Herausforderungen für die deutsche Politik und Gesellschaft. Ein wenig verwundert, aber wohl positiv bewertend, zeigt er sich über die relative Ruhe des Wahlkampfes und der Bundestagswahl im Vergleich zur Schlammschlacht in den USA. Zugleich mangele es nicht an Herausforderungen: Mit der Euro-Reform, der Flüchtlingskrise, dem Kampf gegen den Terror und den hohen Zielen für nachhaltige Entwicklung habe Merkel sich einiges vorgenommen. Wegen der kontrastierenden Temperamente von Merkel und Trump sieht er dunkle Zeiten für die deutsch-amerikanischen Beziehungen heraufziehen.

Falls Deutschland sich als Führungsnation Europas und des Westens geriere, könnte dies langfristig zu Stolpersteinen in den Beziehungen mit China führen. Merkels Wiederwahl garantiere zwar das Fortbestehen der engen bilateralen Beziehungen, in China sei man jedoch auch besorgt über eben jene, vielleicht Instabilität prophezeiende Ruhe der Bundestagswahl.

In der von der politiktheoretischen Partei-Zeitschrift Qiu Shi verweist Ao Jun zur Einordnung der Wahlergebnisse auf Prof. Gu Xuewu von der Uni Bonn. Gu ist der Ansicht, dass die Wiederwahl Merkels mit einer Fortführung der bisherigen Beziehungen einhergehe: zum einen sei China das einzige Land neben Israel, mit dem Deutschland in großem Stil jährliche, festgelegte Konsultationen abhalte, zum anderen hätten Deutschland und China auf dem G20-Gipfel ihre Bereitschaft zum Ausdruck gebracht beim Klimaerhalt und beim Freihandel künftig weiter eng zusammenzuarbeiten.

Eine weitere Analyse zitiert Ao vom China Institute for International Studies (CIIS). Dessen Direktor für Europastudien, Cui Hongjiang, beklage einen Verfall des Multilateralismus und halte Programmatiken wie Trumps „America First“ für einen Teil der Rückkehr des Nationalismus. Sie zeugten von der verstärkten Vermischung von Innen- und Außenpolitik; ein Trend, der auch andere Staaten beeinflussen werde. So würden die chinesisch-deutschen Beziehungen zukünftig etwa im Kampf um die höhere Stellung in der internationalen Wertschöpfungskette auf die Probe gestellt.

Auch die Einflüsse einer Koalitionsregierung und die Besetzung des Außenministers seien nicht ohne Bedeutung. Ao folgert jedoch, dass vor allen anderen Faktoren die Person Merkel als Regierungschefin für Kontinuität und Kohärenz der deutsch-chinesischen Beziehungen stünde. Deshalb würden unter ihr die bilateralen Beziehungen weiter gedeihen.

Auch Ju Hui von der Onlineausgabe der Renmin Ribao (人民日报), Chinas wichtigster Tageszeitung, sieht Merkel am Beginn eines steinigen Weges. Ju verlegt sich stärker auf die Einordnung der Wahl in einen europäischen Kontext. Europa erwarte von Merkel schnellstmöglich die Bildung einer starken, funktionierenden Regierung, während die Kleinparteien und der Aufstieg der AfD ihr wenig Spielraum ließen. Auch aufgrund der seit einigen Jahren fehlenden Regierungserfahrung von FDP und Grünen werde sich die Regierungsbildung schwierig gestalten. Hinzu käme der Einfluss der SPD als nun stärkste Oppositionsfraktion im neuen Parlament.

Zwar sei Europa, allen voran Jean-Claude Juncker, hoch erfreut über den Sieg Merkels, aber im Vergleich zu den letzten 12 Jahren werde die vierte Amtszeit der Kanzlerin sicherlich die schwerste werden. Ju begründet Deutschlands starke wirtschaftliche Stellung in Europa, ungetrübt von Finanz- und Schuldenkrise, mit der „reifen und stetigen Kontrolle“ Merkels über die deutsche Politik. Der Türkei-Deal hingegen habe zwar den Zuzug von Flüchtlingen reduzieren können, die „Herzen von Anti-Flüchtlings-Wählern“ seien ihr dennoch nicht zugeflogen.

Der Widerstand der FDP gegen die EU-Finanztransaktionssteuer und weiter integrierte EU-Haushalte bringe die künftige von Merkel geführte Regierung zudem auf Kollisionskurs mit dem französischen Präsidenten Macron. Für die Zukunft der EU bedürfe es eines starken Deutschlands, das besonders in den Brexit-Verhandlungen die Solidarität unter den 27 Mitgliedsstaaten stärke.

Denn, so Ju, die schweren Verluste der Union und die sinkenden Umfragewerte Macrons begrenzten die Möglichkeiten für umfassende EU Reformen. Ohne weitreichende Kompromisse werde es schwer – für Merkel und für Europa.

Xu Zhikai von The Paper (澎湃), einer Nachrichtenplattform für Politik und Ideologie aus Shanghai, sieht im Rahmen der damals noch laufenden Jamaika-Verhandlungen die FDP als einen natürlichen Koalitionspartner für die CDU/CSU und verweist auf die vergangenen Koalitionen zwischen der FDP mit sowohl der Union als auch der SPD. Die Grünen hingegen stuft er als deutlich schwierigeren Verhandlungspartner ein: Hindernisse wären Forderungen nach einem Atomausstieg, Asyl für Edward Snowden und die Ablehnung einer Obergrenze für Flüchtlinge. 

Angie, when will those clouds all disappear?

In den chinesischen Medien gibt es hoffnungsvolle Stimmen für die Fortsetzung von Angela Merkels Kanzlerschaft, welche viele als Garant für Stabilität in der  europäischen Politik sowie in den deutsch-chinesischen Beziehungen sehen. Das deutsche Wirtschaftswachstum wird als Hauptgrund für Merkels Popularität gewertet. Aus chinesischer Sicht wird weiterhin besonders hervorgehoben, dass sie die Ein-China-Politik der Volksrepublik unterstützt und somit Taiwan nicht als Staat anerkennt. Im Vergleich mit dem polarisierenden Wahlkampf in den USA wird die Besonnenheit in Deutschland gelobt. Aber auch in der Außenpolitik setzt man mit Blick auf Trumps “America First”-Politik verstärkt auf multilaterale Kooperation, gemeinsam mit Deutschland als zuverlässigem Partner.

Während der Stimmenzulauf am linken und rechten Rand den AutorInnen Sorge bereitete, wurden im Rahmen der Jamaika-Verhandlungen vor allem die Grünen mehrfach als schwieriger Verhandlungspartner eingeschätzt. Diese Vermutung hat sich, wie wir mittlerweile wissen, als falsch herausgestellt.

Nützliche Vokabeln rund um die Wahl

Bundestagswahl- 联邦议院选 Liánbāng yìyuàn xuǎn
Jamaika-Koalition- 牙买加联盟 Yámǎijiā liánméng
Koalitionsverhandlungen – 组阁谈判 Zǔgé tánpàn
Kanzler*in – 总理 Zǒnglǐ
Regierungspartei- 执政党 Zhízhèngdǎng
Oppositionspartei- 反对党 Fǎnduìdǎng

Union (CDU/CSU)- 基督教民主联盟 Jīdūjiào mínzhǔ liánméng(kurz:基民盟 Jīmín méng)
Sozialdemokratische Partei (SPD)- 社民党 Shèmíndǎng
Freie Demokratische Partei (FDP)- 自民党 Zìmíndǎng
Bündnis 90/Die Grünen- 绿党 Lǜ dǎng
Alternative für Deutschland (AfD)- 德国选择党 Déguó xuǎnzé dǎng

(politisch) konservativ – 保守 (~e Gesinnung- 的思想 )
rechtsextrem-极右 Jíyòu
(politisch) liberal- 自由 Zìyóu
(politisch) progressiv- 进步 Jìnbù
linksextrem-极左 Jízuǒ

Rechtspopulismus- 右翼民粹主义 Yòuyì míncuì zhǔyì
Linkspopulismus- 左翼民粹主义 Zuǒyì míncuì zhǔyì

Titelbild Credit: “Global Leaders’ Meeting on Gender Equality and Women’s Empow” von UN Women Gallery (Creative Commons BY-NC-ND license). 

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sinonerds-Autor*in

Siyuan He

Siyuan kam bereits als Säugling in die Bundesrepublik und hat in unterschiedlichen Bundesländern gelebt, bis sie schließlich Berlin zu ihrer Heimat auserkoren hat. Ihre Passion fürs Schreiben verbindet sie am liebsten mit dem Kennenlernen neuer Menschen aus anderen Kultur- und Sprachräumen. Momentan setzt sie ihre Erkundungsreise in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba fort, wo es (nicht nur) viele chinesische Geschichten zu erzählen gibt.

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