Siebzehn Jahre sind eine lange Zeit. Genug Zeit, um mehr als ein Buch zu schreiben. Oder aber, um ein ganz besonderes zu übersetzen. Denn so lange hat die Schweizer Sinologin Eva Lüdi Kong an der Übersetzung des klassischen chinesischen Romans Xīyóujì 西游记 gearbeitet – und das Ergebnis kann sich sehen lassen: „Die Reise in den Westen“ ist ein Wälzer von 1320 Seiten zum stolzen Preis von 88 Euro. Hält das Buch, was die chinesische Glückszahl Achtundachtzig verspricht?
Im Schaufenster meiner lokalen Buchhandlung fiel mir „Die Reise in den Westen“ direkt ins Auge: ein dicker Wälzer in sattem Goldgelb, der Farbe der chinesischen Kaiser. Über dem deutschen Titel prangen drei Schriftzeichen: 西 xī 游 yóu 记 jì. Das Xīyóujì ist eines der „vier berühmten Werke“ der klassischen chinesischen Literatur (四大名著 sìdà míngzhù), seine Rahmenhandlung kennt in China, Japan und Korea jedes Kind. Für die unter uns, die anderswo aufgewachsen sind, sei sie kurz zusammengefasst:
Der buddhistische Mönch Xuánzàng 玄奘 reist aus dem chinesischen Tang-Kaiserreich nach Westen, um von Buddha persönlich einige heilige Schriften zu holen. Weil auf diesem langen Weg viele Gefahren lauern, hat ihm die Göttin Guānyīn 觀音 einige Beschützer zur Seite gestellt: Ein Pferd, das eigentlich ein verwandelter Drache ist, den schweinsköpfigen Zhū Bājiè 豬八戒, den sogenannten Sandmönch und – allen voran – den unsterblichen Affenkönig Sūn Wùkōng 孫悟空. Auf ihrer Pilgerfahrt bekommt es diese illustre Truppe mit einer ganzen Reihe von Dämonen und Ungeheuern zu tun, bis sie endlich am Hof Buddhas ankommt.
Diese aus der Ming-Dynastie (1368-1644) stammende Geschichte ist seit Jahrhunderten in ganz Ostasien äußerst bekannt und beliebt und wird bis heute immer wieder neu adaptiert. Das weltweit bekannteste vom Xīyóujì inspirierte Werk dürfte der Manga „Dragon Ball“ sein. Angesichts all dessen ist es erstaunlich, dass bisher keine vollständige deutsche Übersetzung des berühmten Buches existierte. Dem schaffte die Schweizer Sinologin Eva Lüdi Kong mit ihrer im Oktober 2016 im Reclam-Verlag erschienenen Ausgabe glücklicherweise Abhilfe.
Natürlich gelten für ein Buch in dieser Preisklasse hohe Ansprüche. Hält man den Band in der Hand, macht er einen standesgemäß soliden Eindruck. Die Bindung ist robust und die Schrift gut lesbar, nicht zu groß und nicht zu klein. Die einhundert Kapitel sind mit einhundert sorgfältig ausgesuchten, historischen Holzschnitten illustriert. Ein „Verzeichnis der Götter und Fabelwesen“ und ein Nachwort ergänzen die Geschichte. Beide sind für sinologische Laien und Vorgebildete gleichermaßen lesenswert. Zusammen mit den zahlreichen Fußnoten bietet das Nachwort viele Informationen über den kulturellen Kontext und die Symbolik des Werkes.
Doch es gibt auch einige Punkte der Kritik: Bei genauerem Hinsehen zeigen sich kleine Unsauberkeiten im Druck. Diese stören zwar nicht beim Lesen, sind aber angesichts des Preises und der schönen Aufmachung des Buches ein Wermutstropfen. Das gilt auch für das Fehlen eines Schutzumschlags. Ein größerer Makel ist, dass ein Verzeichnis der angeführten Sekundärliteratur fehlt. Ein solches Verzeichnis würde eigene hobbymäßige oder auch professionelle Xīyóujì-Forschung erleichtern. Durch den Druck in einem einzelnen dicken Band wirkt das Buch wie eine Heilige Schrift – was gar nicht so abwegig ist, wie das Nachwort verrät. Das sieht im Bücherregal toll aus, allerdings würde eine Unterteilung in mehrere handliche Bände die Lektüre bequemer machen. Das ist bei chinesischen Ausgaben durchaus üblich und würde gut zum episodischen Charakter der Geschichte passen.
Inhalt bunt, Sprache rund
„Die Reise in den Westen“ ist kein Buch, dass man am Stück verschlingt. Das liegt an der Länge und dem Aufbau der Geschichte: In der Regel erzählen mehrere Kapitel von jeweils einem Abschnitt der Westreise, Ende und Anfang der Kapitel bilden häufig Cliffhanger. Deshalb bieten sich zwei Leseweisen an: Entweder das selektive Lesen einzelner Episoden ohne bestimmte Reihenfolge oder das Lesen der Reihe nach über einen längeren Zeitraum hinweg.
Dabei kann man das Buch auch mal für einige Zeit ins Regal stellen und später wieder in die Geschichte einsteigen, schließlich ist die Rahmenhandlung bekannt und die Details einzelner Episoden sind für die Erzählung weniger wichtig.
Ich würde empfehlen, zuerst das Nachwort zu lesen, um eine Einführung in die Entstehungsgeschichte und den kulturellen Kontext des Romans zu erhalten. Danach bieten sich die einführenden Kapitel an, in denen die erstmals Hauptcharaktere auftauchen und die Geschichte in Gang kommt.
Meiner Meinung nach hat Eva Lüdi Kong in ihrer Übersetzung die richtige Sprache gefunden: märchenhaft, episch und doch selten anstrengend. Es ist ihr gelungen, verschiedene Sprachstile elegant miteinander zu verweben. Je nach Situation und Gemütslage der Charaktere wird mal förmlich erzählt, mal umgangssprachlich dahergeredet.
Diese sprachliche Abwechslung ist es auch, die trotz der sich oft wiederholenden Handlungsmuster die Lust am Lesen aufrechterhält. Die Situationskomik und das anarchische Element, für welche die Geschichte berühmt ist, kommen ebenso gut zur Geltung, wie die philosophisch-religiösen Dimensionen des Textes. Nicht ohne Grund wurde Eva Lüdi Kong für diese großartige Leistung letztes Jahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für Übersetzung ausgezeichnet.
Der Reclam Verlag hat ein in Verarbeitung und Inhalt gleichermaßen schönes Buch vorgelegt, mit dem Liebhaber der klassischen chinesischen Literatur ganz sicher viel und lange Freude haben werden. Auch für Freunde von Märchen und Fantasy sowie für alle, die sich für ein Stück chinesischer Weltliteratur interessieren, dürften sich ein paar Schritte auf der “Reise in den Westen“ lohnen.
Wer mehr zu der Übersetzerin und ihrer Arbeit erfahren will, kann hier weiterschauen: Das Goethe-Institut hat mit Eva Lüdi Kong gesprochen, außerdem wurde sie vom Deutschlandfunk gleich zweimal interviewt. Der Reclam Verlag bietet umfassende Informationen und sogar eine Leseprobe.
Wer nicht so auf klassische Literatur steht, für den hat die chinesische Literaturszene natürlich auch anderes zu bieten: Felix hat für uns den Blogger, Rennfahrer und Schriftsteller Hán Hán 韩寒 unter die Lupe genommen, einen Liebling der sogenannten „Post-80er-Generation“. Für Science-Fiction-Begeistere hat Karo hat die erste Ausgabe des Magazin-Projekts „Kapsel“ rezensiert. Frische chinesische Lyrik gibt es in der „Chinabox“ von Lea Schneider, Johannes hat die Übersetzerin und Herausgeberin in Berlin zum sinonerds-Gespräch getroffen.
Bilder: Titelbild von Rolf Müller im Sommerpalast in Beijing, geteilt auf Wikimedia Commons unter einer Creative-Commons-Lizenz (CC BY-SA 3.0). Affenkönig: “The Monkey King” von Noah Jacquemin geteilt auf Flickr unter einer Creative-Commons-Lizenz (BY-NC-ND).