Mit großem Interesse betrachtete ich kürzlich die Kleiderauswahl beim Unity in Denim Café im Chengduer Künstler- und Startup Block U37. Die UIDs sind ein kleines Franchise-Unternehmen von Cafés, die sich mit der Kombination aus Café, Craftbeer-Pub, Barbershop und einer Auswahl an passender Mode ganz dem Retro-Trend verschrieben haben. Der Kontrast zum umliegenden Viertel könnte kaum größer sein: Draußen an der Hauptstraße rauscht der Verkehr vorbei, Nieselregen fällt auf die Passanten, die vorbei an Hotpot-Restaurants, Bäckereien und verlassen wirkenden Bankgebäuden eiligen Schrittes ihres Weges gehen. Um die Ecke wird eine neue U-Bahnlinie gebaut, morgens hüllt der Smog, abends die Dunkelheit die schmucken Hochhäuser an der nächsten Kreuzung ein.
Vor dem Eingang zu U37 flickt ein Schuster bis tief in die Nacht die Schuhe seiner Kunden. Vor den kleinen Läden in dieser Straße hängen Schweinerippen, Leber und frisch gemachte Würste an langen Fleischerhaken im Freien. Das UID Café dagegen liegt im warmen, gelben Licht der Glühlampen. Zwei US-Flaggen hängen im großen Schrankraum und nicht weniger als vier schwere Motorräder und zwei Vespas dienen als Dekoration. Dazwischen hohe Regale, gefüllt mit alten Motorradhelmen, Modellflugzeugen und einer Auswahl an Retro-Mode. Im hinteren Eck setzt der Barbier gerade mit einem Rasiermesser die Konturen im Haarschnitt seines Kunden. Die Tische laden zum Verweilen ein und viele der Kunden scheinen hier viel Zeit zu verbringen. Zusammen mit dem Personal begutachten sie die neuesten Westen und Hüte im Sortiment.
Was ist Retro?
Der Retro-Trend hat in Europa, den USA und Japan schon länger Konjunktur. Grob gefasst ist damit ein Wiederaufleben von Ästhetiken der 1920er bis 1960er gemeint. Charakteristisch für den detailverliebten Stil sind Kleidungsstücke unterer sozialer Schichten, allen voran der britischen Arbeiterklasse der 1920er und 1930er sowie der jungen Kriegs- und ersten Nachkriegsgeneration aus den USA. Auffallend sind teils aus grobem Stoff, teils auf feinem Tweed gefertigte dreiteilige Anzüge, speziell Westen, schwere und dunkle Jeans, Hosenträger, schmucklose aber hochwertige lederne Halbstiefel, simple Brillengestelle und eine Vielzahl an Kopfbedeckungen. Von den fülligen Newsboycaps über flache Schiebermützen, Bowler in allen Farben des Regenbogens, Trilbys bis hin zum Walter-White-Gedächtnishut Pork Pie finden sich alle denkbaren Modelle wieder.
Ergänzt wird dieses Grundbild bei vielen Kunden noch durch schwere, lederne Motorradjacken und optional eine Auswahl eleganter Tattoos auf Arm und Hand. Die Mützen und Hüte sind grundsätzlich unisex und werden que(e)rfeldein getragen. Zeitlos elegant, ist Coco Chanels “kleines Schwarzes” noch immer die Krönung vieler Abendgarderoben, Audrey Hepburn noch immer eine Stilikone. Feminine Retro-Mode fährt zweigleisig und verfolgt dabei den Kampf um (textile) Selbstbestimmung nach. Manchmal wird der männliche Hose-Hemd-Hosenträger-Hut-Stil direkt übernommen. Spezifischer feminin sind die rebellischen Flapper der 1920er mit Swing- und Charleston-Kleidern, sowie die im Rockabilly (dann treffender Rockabella) gesammelten Elemente, darunter die bekannten Kleider aus mit starken Farben kontrastierten Karo- und Polkadotmustern, geknotete Blusen, Bandanas als Haarband und Latzhosen.
Der Retro-Trend verbindet ästhetische, soziale, kommerzielle und romantische Strömungen und bleibt vielleicht auch gerade deshalb unpolitisch. Da Stil im Gegensatz zu Mode zeitlos ist, bedient sich Retro bei all den Schnitten, Stoffen und Formen, die sich bereits früher bewährt haben. Retro schafft eine romantisierte Essenz des Stils einer Zeit, die die Träger nie erlebt haben, und befreit diese dadurch zugleich von ihren Altlasten. Wer Retro trägt, outet sich weder als Chauvinist noch gibt er ein „früher war alles besser“-Statement ab, meist handelt es sich nur um die Zurschaustellung eines modernen Individualismus.
Ein konsequenter Retro-Anhänger ist im Idealfall auch Konsumkritiker, denn er bezieht seine Kleidung und Accessoires entweder aus Second-Hand-Geschäften oder aus der Produktion kleiner, oft lokaler Betriebe. Im Retro ist Handarbeit Trumpf. Gerade das Retro-Dandytum liebt Anfertigungen auf Maß. Hemden aus Maßanfertigung und kurzlebige Schuhe aus Plastik, das passt nicht zusammen. Häufig machen die Gebrauchsspuren in den Augen der Retro-Jünger ihre Besitztümer erst überhaupt authentisch. Die Beule im Hut, der Kratzer im Schuh und die abgewetzten Säume der Lederjacke. Damit die häufig sehr teuren Anschaffungen aber trotzdem entsprechend lange halten, wird genäht, ausgebessert, gefettet und poliert, so gut es geht.
How to Retro in China
Mit der zunehmenden Verbreitung von individualistischer Selbstinszenierung ist Retro (chin. fùgǔ 复古 = das Alte wiederherstellen) auch in China angekommen. Zusätzlich befeuert, durch kostümbildnerisch perfektionierte Filme und Serien wie „The Great Gatsby“, „Downton Abbey“, „Boardwalk Empire“ und – meinen persönlichen Favoriten aus dem Hause BBC – „Peaky Blinders“. Daneben finden sicher auch immer wieder Bezüge auf Elvis Presley, James Dean und Steve McQueen in ihren Rollen als motorradfahrende Rebellen.
Macht man sich in China nun auf die Suche nach Retro-Artikeln, stößt man schnell auf das Kollektiv 33oz, zu dem auch die UID Cafés gehören. Die 2006 gegründete Plattform vernetzt Retro Fans im ganzen Land, fungiert als Modeblog und Werbeplattform, sowohl für europäische und US-Traditionsmarken als auch für die jungen Unternehmen der chinesischen Retro-Welle. Laut eigenen Angaben erreicht 33oz knapp 100.000 Mitglieder.
Einblicke in die Kleiderfertigungen für die exquisiten Retro-Läden erhalte ich von Ma Duoduo 马多多. Die studierte Textildesignerin liebt den handgewebten schottischen Harris-Tweed. Anfang der 2000er, so sagt sie, war so etwas in China nicht zu bekommen. Also brachte sie gemeinsam mit einem Freund etwas von dem Stoff mit in die Heimat und begann daraus Kleidung im britischen Stil zu schneidern. Ihre Freunde waren begeistert. Sie spezialisierte sich auf europäische Männermode zwischen 1910 und 1930. Was als Hobby begann, ist seit 2012 die kleine, vier Personen starke Schneiderei “Rugged-Remains Clothing” in Tianjin. Ihre Kundschaft erreicht sie über Weibo, Weixin und die restliche Bandbreite der chinesischen sozialen Medien. In den UID Cafés einzelner Städte sind ihre Anzüge, Hemden, Mützen und Handschuhe zu finden.
Trotz allem ist Second-Hand Kleidung in China kaum in Geschäften zu finden. Wie mir mehrfach gesagt wurde, sind die Vorbehalte in der Bevölkerung noch immer zu groß. Kleidung, die von einem Fremden zuvor getragen wurde, kaufen Chinesen meist grundsätzlich nicht. Sei es, weil sie fürchten, damit ungewollt den Anschein von Armut zu erwecken, oder aber aus einem an Aberglauben grenzenden Misstrauen bezüglich der Vorgeschichte des Objekts heraus.Wie auch in anderen Bereichen ist die Produktauswahl im Retro selbstverständlich international. Ob britischer Tweed, amerikanische Jeans, japanische Arbeitshose, taiwanische Hosenträger oder chinesische Krawatte – alle stehen gleichberechtigt nebeneinander und ergänzen sich. Ganz den Konsumgesetzen unterworfen stinkt nicht nur Geld nicht, auch Oldschool-Kleidung müffelt nicht.
Auf meine Frage, ob es neben dem britisch- amerikanischen Retro auch einen chinesische Variante geben könnte, antwortet der Motorradnarr und Musikstudent Li Tao 黎韬 zurückhaltend. Aus seiner Sicht wäre es nicht erstrebenswert, sich an Zeiten des Krieges und des Chaos in China erinnert zu fühlen, außerdem kleideten sich viele Chinesen schon damals im Stil der Europäer.
Damit es einen markanten Unterschied gäbe, müsste man noch weiter auf dem Zeitstrahl zurück. Auch dieser Gedanke erscheint ihm fremd: “Wenn man heute Leute sieht, die Kleidung aus der Han- und Tang-Zeit tragen, dann wirkt das eher seltsam.“
Dong Yi Ke 董亦可 arbeitet bei UID als Barbier, ausschließlich für Herrenhaarschnitte. Eigentlich sei er Maler, sagte er mir und praktiziert das Haareschneiden erst seit etwas über einem Jahr. Für ihn sei die Atmosphäre etwas ganz besonderes und an der Kultur habe er Gefallen gefunden. Zum Retro sei er zuerst durch die Filme gekommen. Das Herzstück bleibe für ihn aber die Kleidung. Am besten gefällt ihm die Ivy league, eine Stilrichtung, die in den 50ern und 60ern auf den Campussen von US Eliteuniversitäten geprägt wurde und viele Elemente aus der Freizeitmode der britischen Oberschicht der 1920er aufgriff.
In einem Punkt sind sich Li und Dong in jedem Fall einig: sie gehen davon aus, dass Retro in China nicht massentauglich ist. Ein wirkliche Retro-Welle oder gar einen Retro-Mainstream sehen sie nicht kommen.
Der Stoff der Politik
Für Träger und Freunde des Retro in China ist die politische Neutralität dieser Bewegung ein Element von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Außer dem Individualismus wird keine Position bezogen und auch daher kann eine Popularisierung des westlichen Retro in China voranschreiten.
Ein Blick in die jüngere chinesische Geschichte zeigt, wie gut sich die Entwicklung des Landes am Kleidungsstil seiner Bewohner ablesen lies und lässt. Mit dem Wechsel von der Ming- zur Qing-Dynastie 1644 fanden mandschurische Kleidungsstücke ihren Weg in die chinesische Mehrheitsgesellschaft.
Sie sollten später definieren, was wir im Westen als „chinesische Kleidung“ bezeichnen würden. Die mittig-geknöpfte Tangzhuang-Jacke 唐装 und das Langgewand Changshan 長衫 kennen viele Leser sicherlich aus Kung Fu-Filmen oder eigener Trainingserfahrung. Tangzhuang und Changshan erlebten durch das Kino ein kleines Comeback. Für eine der seltenen Gelegenheiten ein Changshan öffentlich zu tragen, sorgte mein Kindheitsheld Jackie Chan als er 2016 den Oscar für sein Lebenswerk entgegennahm. Die überaus körperbetont geschnittenen Qipao-Kleider aus dem frühen 20. Jahrhundert verkörpern für viele noch heute das Sinnbild femininer chinesischer Eleganz.
Während des Niedergangs der Qing begannen kritische Intellektuelle wie etwa Sun Yat-Sen und Lu Xun ihren Dissens optisch nach Außen zu tragen. Sie schnitten sich den vorgeschriebenen Zopf ab und kleideten sich nach westlichem Vorbild.
In der Republikzeit entwickelte sich eine Vielzahl neuer Einflüssen auf die Kleidungsgewohnheiten der Chinesen. Traditionelle Qing-Kleidung und die westliche Uniform „Anzug“ wurden parallel getragen und drückten mal sozialen Stand, mal Intellekt oder politische Ausrichtung aus. Die Arbeitsuniformen der Mao-Ära beendeten das bunte Durcheinander und kleideten ganz China in Grün, Blau und Grau. Traditionelle Kleidung war als bourgeois verpönt. Heute sehen wir in China einen vorwiegend verwestlichten Kleidungsmainstream mit Einflüssen aus Korea und Japan. Wie kann man da noch auffallen?
Auch wenn es keinen direkten Wettbewerb zwischen Retro, Elementen der Qing-Kleidung und dem von Li Tao angesprochenen Hanfu 汉服-Phänomen gibt, zeigt sich in ihrer Koexistenz doch ein sehnlicher Wunsch. Während die politische Führungsriege immer noch Mao-Anzug und Business-Casual trägt, während westliche Modehäuser chinesische Innenstädte und Straßenbilder dominieren, sucht ein kleiner Teil von Chinas junger Generation nach der Ästhetik des Alten.
Titelbild © Ma Duoduo 马多多.