Revolution beim Abendessen

Es gibt Orte in Peking, an denen man sich für die Dauer eines Abendessens in die revolutionäre Ära Mao Zedongs zurückversetzten kann. Gemeint sind eine Reihe von Restaurants, deren Dekorationen, Speisekarten, Bedienungen und paradeähnlichen Aufführungen an alte Zeiten anklingen lassen. Sie liegen vornehmlich in den städtischen Randgebieten, weshalb sie nicht so leicht zu finden sind. Die Mühe, einen dieser revolutionären Speisesäle ausfindig zu machen, lohnt sich hingegen. Nicht etwa, weil es eine besondere kulinarische Erfahrung ist, sondern weil ein Besuch uns etwas über den Umgang mit der Ära Mao Zedongs verrät.

Insgesamt sind mir vier Restaurants mit den verdächtigen Namen „Die Roten Klassiker“, „Revolutionäre Basis“, „Flattern Der Roten Fahnen“ und „Maos Zuhause“ bekannt.* Ich selbst war mit Freunden im „Die Roten Klassiker“.

Einmal Das ganze Land ist rot, bitte!

Eingang

Am Eingang

Bereits der rote Stern in überdimensionaler Größe im Eingangsbereich mutet auf ein Restauranterlebnis der besonderen Art an. Die Bedienungen tragen Uniformen, wie sie die Rotgardisten während der Kulturrevolution (1966 – 1976) trugen. Überall an den Wänden prangert das Konterfei des Großen Führers zusammen mit damaligen Propagandapostern. In einer Ecke steht ein roter Traktor, der sich soeben seinen Weg durch die Wände gebahnt hat. Nicht zu vergessen natürlich die unzähligen roten Fahnen, sowohl an Wänden als auch auf den Tischen für die Gäste. Auf der Speisekarten finden sich Gerichte, wie zum Beispiel: „gebratenes Fleisch in brauner Soße“ (Maos Leibspeise), „Revolutionäre Familie“, „Das ganze Land ist Rot“ oder „Befehl des Anführers“ (Bittermelone).** Die einheimischen Gäste können anhand solcher Namen anscheinend auf die Zutaten des Gerichts schließen, wir westlichen Besucher müssen hingegen zunächst eine Bedienung konsultieren. Die Speisen an sich sind durchschnittlich, nichts Besonderes, fanden wir jedenfalls, aber auch nicht schlecht. Ich denke, die meisten Besucher kommen auch nicht wegen des Essens, sondern wegen der einstündigen Aufführungen, die es laut Angaben des Restaurants zweimal täglich (um 12.15 und 19.15 Uhr) gibt.

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Ein revolutionärer Traktor

Zweifelsohne waren die Aufführungen auch für uns das Highlight des Restaurantbesuchs. Den Beginn machten zwei Hymnen, zu denen in Uniformen gekleidete Soldaten mit Pappgewähren über die Bühne marschierten und dazu große Fahnen schwenkten. Der Liedtext wurde per Beamer auf eine Leinwand zum Mitsingen projiziert. Danach folgten weitere revolutionäre Lieder. Zu beobachten war ein zunehmender Enthusiasmus der Gäste, die mehr und mehr mitsangen und vermehrt aufstanden. Den Höhepunkt markierte eine Art Theateraufführung, in der der Sieg über die Japaner melodramatisch dargestellt wurde, begleitet von lautem Gelächter und Applaus. Mittlerweile hatte sich die Großzahl der Gäste erhoben und sich ins Fahnenschwenken eingestimmt. Die Stimmung war nun überwältigend, sodass „Der Osten ist rot“ – ein Loblied auf Mao – angestimmt wurde, dessen Liedtext wie folgt aussieht:

„Der Osten ist rot, die Sonne geht auf |: China hat Mao Zedong hervorgebracht. |: Er plant Glück für das Volk, |: Hurra, er ist der große Erlöser des Volkes! |: Der Vorsitzende Mao liebt das Volk, |: Er führt uns, |: Um das neue China aufzubauen, |: Hurra, führt uns nach vorn. |: Die Kommunistische Partei ist wie die Sonne, |: Und scheint genau so hell, |: Wo es eine Kommunistische Partei gibt, |: Hurra, da ist die Befreiung des Volkes.“ (Übersetzung von Wikipedia)

东方红,太阳升,中国出了个毛泽东。 |: 他为人民谋幸福,呼尔嗨哟,是人民大救星! |: 毛主席,爱人民,他是我们的带路人, |: 为了建设新中国,呼尔嗨哟,领导我们向前进! |: 共产党,像太阳,照到哪里哪里亮。 |: 哪里有了共产党,呼尔嗨哟,哪里人民得解放!(Original)

Die Aufführung zeigt, wie sich japanische Soldaten ergeben

Der Sänger wanderte währenddessen zwischen den Tischen hindurch, stellte sich immer wieder auf einen Stuhl, und riss an bestimmten Stellen energisch die Faust hoch als wolle er das Publikum noch mehr anfeuern. Es wurde lautstark mitgesungen und heftig Fahnen geschwenkt. Wir waren überaus glücklich mit unserer Tischwahl am Rande des Geschehens.

Immer noch Mao?

Zugegebenermaßen war der Besuch im Mao-Restaurant phasenweise etwas grotesk und unerwartet „revolutionär“, denn mit einer derartigen überschwänglichen Begeisterung von Seiten des Publikums hatte keiner von uns gerechnet. Dabei bestätigt die Erfahrung im Wesentlichen eine Tatsache, die vielen westlichen Beobachtern paradox und unverständlich erscheint: Ein fortlebender, omnipräsenter Mao-Kult auch im modernen China.Bildschirmfoto 2014-09-10 um 23.24.05

Was ist für viele so paradox daran? Mao Zedong hat mit seinen Reformversuchen nicht nur das Land heruntergewirtschaftet, sondern auch Hungersnöte und Bürgerkriege auferstehen lassen, die die Gesellschaft spalteten und Millionen von Menschen das Leben kosteten. Aufgrund dieser negativen Bilanz, sollte Mao eigentlich verachtet, nicht etwa bewundert werden. Eine derartige Argumentation lässt hingegen eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste Errungenschaft Maos außen vor: Die Rückgewinnung der Unabhängigkeit Chinas und der Sieg über Japan. Mao hat China 1949 – nach Jahrzehnten der Demütigung – wieder ein Gesicht gegeben und einen Nationalstolz aufleben lassen. Die andauernden Auswirkungen dieses Triumphes sollten nicht unterschätzt werden. Für viele in China ist Mao trotz allem der Gründer des heutigen modernen Chinas!

Zurück zu alten Zeiten

Zurück zu alten Zeiten?

*Namen und Adressen der Restaurants auf Chinesisch:
  • Die Roten Klassiker – “红色经典主题餐”, 朝阳区东五环外白家楼266号
  • Revolutionäre Basis – “根据地饭店”, 大兴区西红门镇金星十字路口东
  • Flattern Der Roten Fahnen – “红旗飘飘大饭堂” (毛泽东思想大食堂), 大兴区西红门镇同华路市供镇学校南200米
  • Maos Zuhause – “毛家家店”, zwei Filialen:
    1) 朝阳区西大望路3号蓝堡国际中心2楼;
    2) 朝阳区慧中北里216号(北辰东路口)
**Namen der Gerichte auf Chinesisch:
  • Gebratenes Fleisch in brauner Sosse (Mao-Style): 毛式红烧肉 máo shì hóng shāo ròu
  • Revolutionäre Familie: 革命大家庭 gé mìng dà jiā tíng
  • Das ganze Land ist rot: 全国山河一片红 quán guó shān hé yī piàn hóng
  • Befehl des Anführers: 主席令 zhǔ xí lìng
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sinonerds-Autor*in

Christian Carl

Chris ist '92 geboren und studiert an der HTWG Konstanz "Wirtschaftssprachen Asien und Management, China". Das erste Mal zog es ihn 2010 für einen Freiwilligendienst in das Land der Mitte. Chris findet die westliche China-Berichterstattung zu einseitig und möchte herausfinden, warum China so anders ist.

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