Seit 2017 lebt der Rapper Scor in Shenzhen (Provinz Guangdong). Geboren und aufgewachsen ist er in Bremerhaven. Dort fängt er im Alter von 13 Jahren mit dem Rappen an. Nach dem Abi zieht es den passionierten Sprachen-Lerner erst mal nach Paris, wo er Französisch lernt. In seiner Sprachschule lernt er ChinesInnen kennen, freundet sich mit ihnen an und schnell löst der Funke der China-Faszination ein loderndes Feuer in ihm aus.
Was begeistert dich an China?
Scor: In Deutschland sind die Menschen meist nicht so aufgeschlossen. Mit Chinesen ist das anders. Wenn du in Deutschland zu einem Geburtstag eingeladen bist und nur das Geburtstagskind kennst, dann hast du den Druck, die anderen Gäste von dir überzeugen zu müssen. Mit meinen chinesischen Freunden habe ich das nie so empfunden. Da war dieser Anspruch, nicht so still zu sein und aus sich herauskommen zu müssen, einfach nicht da. Ich war damals auch noch viel introvertierter als heute und die Offenheit meiner chinesischen Freunde hat es mir leichter gemacht, aus mir herauszukommen. Endgültig fasziniert war ich dann, als ich das erste Mal in China war, um das Land kennenzulernen – das war kurz vor dem Studium. Ich habe mich dort einfach sofort wohler, weniger gestresst und irgendwie mehr zu Hause gefühlt.
Neben seinem Studium der Wirtschaftskommunikation in Berlin lernt Scor Chinesisch – manchmal heimlich während des Unterrichts auf seinem iPad. Er verbringt mehrere Auslandssemester in Shanghai und tut für sein Hauptstudium „nur das Mindeste“. Nach seinem Abschluss zieht es ihn endgültig in die Volksrepublik, wo er eine Stelle in der Marketingabteilung eines Großunternehmens in Shenzhen annimmt. Doch nach etwas mehr als einem Jahr muss er sich eingestehen, dass ihm die Büroarbeit keinen Spaß mehr macht. Er weiß, dass er für die Erfüllung seines Traums, ein erfolgreicher Rapper zu werden, vor allem eines braucht: Zeit. Dafür nimmt er auch in Kauf, dass ihm das Geld gerade einmal für Miete und Essen reicht. Als Scor 奥熙 (Àoxī) fängt er an, Rap auf Chinesisch zu veröffentlichen. |
Was bedeutet dir Rap?
Scor: Rap ist Therapie. Schon mit 13 hat sich das für mich so angefühlt. Man kann darin einfach alles Negative verarbeiten, das man im Alltag erlebt hat. Das geht für mich mit Rap am besten, weil er so ausdrucksstark ist. Andere Genres höre ich kaum. Chinesisch ist die einzige Sprache, auf der ich mir Herzschmerzlieder anhören kann, ohne zu cringen.
Im Chinesischen gibt es vier verschiedene Töne, die die Bedeutung einer Silbe verändern können. Wie integriert man das beim Rappen?
Scor: Die Töne bleiben auch beim Rap bestehen, nur in leichterer Form. Das hört man auch heraus, wenn man darauf achtet. Ganz selten kommt es vor, dass ich etwas nochmal aufnehmen muss, weil die Betonung falsch war.
Du hast mal gesagt, dass man in der chinesischen Rapszene am Anfang auch mit Vorurteilen auf deine Musik reagiert hat. Wie war das genau?
Scor: Am Anfang hatte ich ganz stark das Gefühl, mich beweisen zu müssen. Deswegen habe ich die ersten zwei Jahre nur auf Chinesisch gerappt, während chinesische Rapper auch immer mal ein paar Lines auf Englisch gebracht haben. Und trotzdem kam immer wieder Kritik: ‚Hier ist der Ausdruck nicht ganz richtig‘, oder ‚Das ist zu simpel ausgedrückt‘ und so weiter. Ich musste meine Texte also ständig verbessern. Dafür habe ich häufig „Chengyus“, also chinesische Sprichworte, recherchiert, die ich in meine Texte einbauen konnte und dadurch meinen Wortschatz immer mehr erweitert. Generell sind die Erwartungen da extrem hoch. In Deutschland sagt dir ja auch keiner: ‚Oh, du musst aber etwas mehr wie Goethe schreiben!‘
Die erste Frage, die mir Leute gestellt haben, war oft: Warum machst du chinesischen Rap? Viele sind davon ausgegangen, dass ich nach China gekommen bin und Chinesisch gelernt habe, nur um Rap zu machen. Aber China ist wirklich der schwierigste Markt dafür – von Anfang an zum Ziel zu haben, nach China zu gehen, um dort ein berühmter Rapper zu werden, hätte keinen Sinn gemacht. Es gibt einige andere Ausländer in China, die zum Beispiel durch Douyin 抖音, die chinesische Version von TikTok, bekannt geworden sind und erst dann auf den Rap-Hype aufgesprungen sind. Sie waren also zum Beispiel erst Komiker auf Douyin, und dann plötzlich Rapper. Da habe selbst ich Vorurteile. Die machen einfach was gerade im Trend ist.
Während Scor in seinem winzigen Shenzhener Zimmer Musik produziert und sich mit etwa 300 Euro im Monat stets am Rande des Existenzminimums bewegt, bahnt sich sein Durchbruch an. Sein Disstrack „Fortune Code“, den er 2020 über einen anderen Douyin-Creator veröffentlicht, wird innerhalb kurzer Zeit allein auf der Video-Plattform Bilibili 哔哩哔哩 über fünf Millionen Mal geklickt. Mit der Zeit gehen auch andere seiner Songs viral und er fängt an, auch Videos zu veröffentlichen, die nichts mit Musik zu tun haben. Einer seiner Posts auf Weibo wird sogar über 20 Millionen Mal angesehen. Der Regisseur einer Castingshow wird auf Scor aufmerksam und lädt ihn zu der Castingshow „Rap for Youth“ (说唱新世代) ein, bei der 40 Rapper in Big-Brother-Manier in einem Haus leben. Die Show macht Scor in China bekannt. Inzwischen spielt er regelmäßig Gigs in China und wird von jungen Menschen auf der Straße erkannt. |
Warum feiern ChinesInnen deinen Rap?
Scor: Ich würde sagen, weil ich mich mehr traue. Als ich 2013 angefangen habe, chinesischen Rap zu hören, hat das hier in China noch komplett im Untergrund stattgefunden und es hat kaum Aufmerksamkeit dafür gegeben. Damals war es noch ungefiltert. Diesen Stil versuche ich bis heute beizubehalten. Diesen Rap gibt es auch immer noch in China, in einem Rahmen, der zwar akzeptiert ist, aber nie in den Mainstream übergehen wird. Das heißt, mit meiner Musik habe ich in China mittlerweile den größtmöglichen Erfolg. Ich kann aber niemals noch erfolgreicher werden, ohne dass ich meinen Stil, mein Aussehen und meine Texte an den Mainstream anpassen muss. Wenn man in China erfolgreich werden will, ist man auf die Unterstützung von oben angewiesen, das ist einfach so. Aber ich will meinen Stil beibehalten. Vielleicht passt er ein bisschen besser nach Deutschland. Das merke ich daran, dass inzwischen auch viele Deutsche anfangen, meinen chinesischen Rap zu hören.
2013 war es also noch möglich, in China freier und kritischer zu rappen?
Scor: Gewissermaßen schon, man war jedenfalls erfolgreicher damit. Die Rapper, die das immer noch so machen, sind nie wirklich bekannt geworden. Andere haben irgendwann ausgesehen wie Mitglieder einer Boyband, nur noch Honigkuchenpferd-Rap gemacht, an Castingshows teilgenommen und auf Superstar gemacht, damit sie elternfreundlich klingen und dem Mainstream entsprechen. Das würde ich aber gar nicht auf die Regierung schieben, sondern darauf, dass Rap in China vor allem durch Castingshows aus dem Untergrund geholt wurde, sich seitdem aber nicht organisch entwickelt hat. In den Castingsendungen wird ein gewisser Stil gepusht, der dem Mainstream entspricht, wodurch die Stilvielfalt immer mehr abnimmt. Man ist in China im Rap-Geschmack darauf beschränkt, was man aus den Castingshows kennt.
Du hast dir die Skyline von Shenzhen auf den Unterarm tätowieren lassen. Warum magst du ausgerechnet Shenzhen so sehr?
Scor: Shenzhen ist einer der wenigen Orte in China, an dem ich als Ausländer nicht so viel Aufmerksamkeit errege. Es ist eine Einwandererstadt, ein bisschen wie das New York von China. Wenn du mitten auf dem Land etwas auf Chinesisch bestellst, ist das für die Menschen etwas total Besonderes. In Shenzhen ist das nicht so ungewöhnlich, sodass dir als Chinesisch sprechender Ausländer kaum das Gefühl gegeben wird, dass du anders bist oder nicht dazugehörst. Hier kann man sich wie ein Local und eben richtig zu Hause fühlen. Und anders als Shanghai war Shenzhen noch vor 42 Jahren nichts als ein Fischerdorf. Mittlerweile ist es kurz davor, Shanghai wirtschaftlich zu überholen. Die Stadt wird auch das Silicon-Valley von China genannt, denn hier gehen alle hin, um ihre Start-ups zu gründen. Das macht es natürlich auch viel einfacher, Freunde zu finden, weil alle dasselbe Schicksal teilen: Neu an diesem Ort zu sein.
Im Frühjahr 2022 werden die Corona-Maßnahmen in Shenzhen wieder verschärft, sodass Scor keine Live-Gigs mehr spielen kann. Etwas Neues muss her. Er eröffnet einen TikTok-Kanal, auf dem er zunächst in Kurzclips auf Deutsch zeigt, wie der Lockdown in Shenzhen aussieht. Inzwischen hat er rund 320.000 Follower auf der Plattform und macht regelmäßig Videos über das Alltagsleben in China, über Benzinpreise, Bürokratie, chinesisches Essen und die Eigenheiten der chinesischen Sprache. |
Hast du das Gefühl, durch deinen TikTok-Auftritt eine Vermittlerrolle zwischen der deutschen und der chinesischen Jugend einzunehmen?
Scor: Ja, zwischen den Kulturen. Ich kriege viele Nachrichten von Leuten, die schreiben, dass sie ein sehr schlechtes Bild von China hatten und dass sich dieses Bild durch meine Videos verbessert hat. Einige haben sogar angefangen, selbst Chinesisch zu lernen. Darüber freue ich mich, denn ich finde es schade, wenn die Menschen Politik und Kultur nicht voneinander trennen können. Mit meinen Videos will ich dafür sorgen, dass die Menschen China kennenlernen, ganz unabhängig von der Politik. Ich bekomme auch viele Nachrichten zu aktuellen politischen Themen, die mit China zu tun haben. Ich habe aber überhaupt nicht den Anspruch, Journalist zu sein. Mein Motto ist: ‚Ich bringe euch nicht die Nachrichten, sondern ich bringe euch mein Leben, also das, was ich hier erlebe.
Du hast gesagt, dass dein Stil vielleicht besser auf den deutschen Markt passt. Was ist dein Plan für die nächsten Jahre?
Scor: Ich will gerne auch den deutschen Musikmarkt mitnehmen. Aktuell arbeite ich an einem neuen Song – diesmal komplett auf Deutsch. Aber mein großer Wunsch ist es, zum Pendler zu werden. In Deutschland Musik produzieren, vielleicht auch Konzerte spielen. In China möchte ich vor allem Musikvideos aufnehmen und meinen TikTok-Kanal weiterführen, das macht mir viel Spaß. Diese Abwechslung wäre toll für mich, sodass ich nicht zu lange genau dasselbe machen muss.