„Ihr seid nicht Beijing, ihr seid nicht Shanghai oder Guangzhou… ihr seid EIN Land!“ So oder so ähnlich pflegte Klaus Schlappner in seinem Kurpfälzer Dialekt auf die chinesischen Fußballer der Nationalmannschaft einzureden. Für Ansprachen dieser Art hatte er sich extra eine kleine chinesische Flagge besorgt, die er den Sportlern in diesen Momenten unter die Nase hielt. Ein Deutscher, der an das Nationalgefühl und den patriotischen Zusammenhalt der chinesischen Nationalelf appelliert… was war denn da los?
Sofort Klick macht es bei dem eingefleischten deutschen Fußballfan, dem der Name Schlappner natürlich ein Begriff ist. Denn neben seinem großen Erfolg von 1983, als er es als Trainer der damaligen Zweitligamannschaft SV Waldhof Mannheim in die Bundesliga schaffte, steht der Name Schlappner auch für äußerst markante Sprüche und den modischen Glanz des Pepitahuts. 1992 dann der Clou. Die Karriere des von seinen Fans liebevoll-ironisch „Schlappi“ betitelten Trainers bekam eine ganz unerwartete Richtung, als ihn ein verlockendes Angebot aus Fernost erreichte: den Posten als Nationaltrainer der Volksrepublik China. Er sagte zu und war von 1992 bis 1995 Chinas erster ausländischer Fußballnationaltrainer – samt dem mit diesem Titel verbundenen Ruhm (angeblich brachte 1993 bei einer Versteigerung während der berühmten Frühlingsfest-Gala im chinesischen Fernsehen ein einziges Haar von Schlappner sage und schreibe 50.000 RMB ein!). Selbst Deng Xiaoping, Chinas großer historischer Lenker der Modernisierung und anscheinend auch aufmerksamer Fußballfan, war sich nicht zu fein, sich regelmäßig bei dem deutschen Trainer zu melden und ihm aufzuzählen, wie oft sich die chinesischen Fußballer im vorherigen Spiel im Strafraum befanden und wie viele Torschüsse er in Relation gezählt hatte. Die in dieser Zeit aufgebaute Bindung zum Land der Mitte hat sich Klaus Schlappner bis heute bewahrt, und der ihm in der Volksrepublik verliehene Spitzname 施大爷 („Onkel Shi“) zeugt von Respekt und Freundschaft, die ihm umgekehrt viele Leute in China entgegenbringen.
Ich selbst (ehemals überzeugte Fußballunwissende, nunmehr vor allem unwissend) hatte eher zufällig von ihm erfahren, aber sein bunter Lebenslauf hatte mich so neugierig gemacht, dass ich unbedingt ein Interview mit ihm führen wollte. Im Chinesischen Kulturzentrum Berlin traf ich dann auf einen Mann, der erfrischend direkt war, abwechselnd bodenständig und abgehoben und dabei immer überraschend sympathisch. Einen Menschen wie Klaus Schlappner kann man wohl schlecht beschreiben, muss man ihn doch persönlich treffen und sich dann selbst ein Urteil bilden. Ich jedenfalls nutzte die Gelegenheit des Zusammentreffens, um mit ihm über seine persönlichen Trainererfahrungen im Land der Mitte und die chinesische Profiliga zu sprechen. Nicht ohne zu fragen: Wann wird China denn nun endlich einmal Fußballweltmeister?
sinonerds: Als Sie 1992 als der neue Nationaltrainer in China ankamen, welche Situation fanden Sie dort vor?
Klaus Schlappner: Im Vorjahr hatte China 1:0 gegen Hongkong verloren. Alle waren nervös, alles wurde aufgelöst und der chinesische Trainer wurde nicht mehr weiter beschäftigt. Man hat dann einen ausländischen Trainer gesucht – und mich gefunden. Die Situation war einfach: Es gab keinen Trainer, keine Profiliga, keine Nationalmannschaft, keine Struktur im Verband und keine Grundlage in der Jugendarbeit.
Wie haben Sie das Training der Mannschaft nach Ihrem Antritt verändert?
Ein gutes Training beginnt mit der Pünktlichkeit. Aber auch eine gute Vorbereitung, genug Schlaf, eine gesunde Ernährung, Entspannungsphasen inklusive Physiotherapie sowie die richtige Nachbereitung sind wichtige Elemente, für die ich mich von Anfang an eingesetzt habe. Außerdem waren da noch die punktuellen Sachen, wie zum Beispiel Abwehr, Mittelfeld, Außenstürmer, Torabschluss und Flanken. So intensiv zu trainieren, das hatten die Spieler noch nicht erlebt… aber wir haben das gemacht.
Hatten diese neuen Trainingsmaßnahmen Erfolg?
Ja, der Erfolg kam ziemlich schnell. Schon im Oktober 1992 gewannen wir beim Asian Cup in Hiroshima den dritten Platz. Für die Chinesen war das sensationell, ein absolutes Highlight! In diesem Jahr wurde ich in China zum „Trainer des Jahres“ gewählt. Die WM-Qualifikation 1993 haben wir dann leider nicht geschafft, das war noch zu früh, aber im Jahr 1994 folgte der zweite Platz bei den Asian Games. Dieser weitere Höhepunkt war der Hintergrund dafür, dass ich anfing, mich aktiv um eine Nachfolge zu kümmern. Dabei hatte ich einen chinesischen Trainer im Kopf, den ich nach Deutschland zum Hospitieren schickte, damit er anschließend das, was er bei mir und den anderen deutschen Trainern gelernt hatte, für das Training der chinesischen Nationalmannschaft nutzen konnte. 1995 traf ich dann die endgültige Entscheidung, mein Trainerdasein zu beenden und mich stattdessen der fußballerischen Beratung Chinas zu widmen.
Sie standen auf dem Höhepunkt Ihrer Trainerkarriere, als Sie sich 1995 in die Beratung zurückzogen. Warum dieser Schritt?
Um das letzte aus einem Hochleistungssportler herauszuholen, braucht man die direkte Ansprache. Da kann man nicht ständig einen Dolmetscher hinzuziehen. Das ist sonst der Umweg, bei dem der Athlet immer die Ausrede hat, der Dolmetscher hätte etwas falsch übersetzt oder so. Der direkte Weg – das war die Überlegung dahinter, einen chinesischen Trainer einzusetzen.
Sie sind bis heute in der fußballerischen Beratung Chinas tätig. Aus Ihrer Perspektive: Wie hat sich die chinesische Profiliga in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelt?
In den ersten fünf Jahren lief es sehr gut. Damals kamen pro Spiel oft 40.000 bis 45.000 Zuschauer. Im Durchschnitt etwa 32.000. Bei zwölf Mannschaften schon ein sehr guter Schnitt. Die Fans sind auch mit uns gereist, zum Beispiel nach Bangkok oder zum Kings Cup, den wir im Februar 1993 gewannen. Es war also ein richtiger Boom, auch von kommerzieller Seite her. In den 2000er Jahren gab es dann viel Ärger im chinesischen Fußballverband, und es wurden auch viele Leute zu schnell ausgewechselt. Bis heute hat sich der Verband davon noch nicht ganz erholt, auch wenn sich viele Leute, wie der Sportminister und der Generalsekretär Zhang, sehr viel Mühe geben. Man kann die chinesische Situation nicht mit der deutschen vergleichen. In China kennt man die einzelnen Clubs nicht wirklich, und es findet keine große Identifikation mit ihnen statt. Deutschland hat hingegen mit seinen Vereinen ein Riesenpotential an sozialen Leistungen, um die sich der Staat nicht selbst kümmern braucht. In China entstehen keine richtigen Vereine, sondern eben Clubs, die sich irgendwelche Millionäre und Milliardäre leisten. Der Jugendliche kommt dabei zu kurz! Vom Bambini zum Profi. Der Schüler, der Jugendliche, der Junior, das ist die Grundlage. Man darf ja nicht vergessen: Der Profisport umfasst nur 0,2 Prozent. Mehr als 99 Prozent der Fußballspieler sind Jugendliche, Amateure, Senioren, Kinder, usw. Nur 0,2 Prozent sind Profis, auch in Deutschland.
Noch eine letzte Frage, Herr Schlappner. Wie lange müssen wir noch warten, bis China den Weltmeistertitel holt?
Ja nun, allein daran zu denken ist schon eine Vision. Das ist schon sehr mutig. Die Chinesen können Fußball spielen, keine Frage. Aber die Arbeit mit dem Fußball wurde in den letzten zehn, fünfzehn Jahren falsch gemacht. Die Gier und der Ehrgeiz, sich kommerziell und materiell mit den europäischen Clubs messen zu wollen. Manchester, Real oder Bayern München werden wie Vorzeigeclubs gehandelt – das ist falsch! China sollte damit beginnen, sich die deutschen Amateurvereine zum Vorbild zu nehmen. Die Sportlehrer der Schulen sollten Mannschaften gründen, die dann jede Woche gegeneinander antreten. So wie in Deutschland die Sechs- oder Sieben-jährigen schon regelmäßig trainieren und sich im Wettkampf messen. Das ist die Arbeit, die schon die Lehrer an den Mittelschulen übernehmen müssen: Mannschaften gründen und diese in einer organisierten Saison spielen lassen. Der deutsche Fußballverbund und ich unterstützen China seit Jahren dabei, diese Neuerungen in der chinesischen Fußball-Jugendarbeit umzusetzen.
Herr Schlappner, wir danken Ihnen sehr herzlich für dieses Gespräch!
Gern geschehen. Ich möchte die Gelegenheit noch nutzen, alle meine Freunde in China sowie die chinesischen Fußballfans herzlich zu grüßen und noch einmal zu betonen: Die Chinesen können Fußball spielen!