“Das ist doch gefährlich!” Auf Reisen im Osten Chinas bekam ich diesen Satz ständig zu hören. Manche meiner Freunde und zufälligen Zugbekanntschaften waren richtiggehend entsetzt, als sie erfuhren, dass ich auf dem Weg nach Ürümqi war. Sie beruhigten sich erst etwas, als sie laut sinnierend zum Schluss gekommen waren, eine offensichtliche Ausländerin wie ich würde nicht angegriffen werden. Ein Freund schickte mir Notfallnummern für den Fall, dass ich verhaftet würde.
Das Uigurische Autonome Gebiet Xinjiang liegt im Nordwesten Chinas und macht ein Sechstel der Gesamtfläche des Landes aus. Seine spektakuläre landschaftliche Vielfalt und schiere Größe, seine breiten Flüsse, gelben Birkenwälder, roten Wüsten, schneebedeckten Berge und grünen Hänge sind seit langem ein Anzugspunkt für Touristen.
Xinjiang ist in ganz China bekannt für das beste Obst und Fleisch, die besten Trockenfrüchte und Nüsse. Es wird mit gastfreundlichen, singenden und tanzenden, farbenfroh gekleideten Menschen in Verbindung gebracht: ein Klischee, das vielen der 55 ethnischen Minderheiten Chinas anhaftet. Außer den Han – die zwar die klare Mehrheit der chinesischen Bevölkerung stellen, in Xinjiang aber mit 40% eine knappe Minderheit bilden – leben im Uigurischen Autonomen Gebiet vor allem die namensgebenden Uiguren, außerdem Kasachen, Hui, Kirgisen und Mongolen. In den vergangenen Jahren hat sich das Image der Region jedoch gehörig gewandelt. Nach den gewaltsamen Unruhen in der Hauptstadt Ürümqi 2009, gefolgt von verschiedenen anderen Vorfällen (zum Beispiel dem Attentat am Bahnhof von Kunming 2014, das uigurischen Separatisten zugeschrieben wird), wird Xinjiang oft mit Terror assoziiert.
Ich war glücklich in Xinjiang. In meinem halben Jahr dort habe ich viel gelernt und solche Herzlichkeit und Unterstützung erfahren, dass ich jetzt noch schnell nostalgisch werde. Es wird immer eine Region bleiben, der ich mich tief verbunden fühle.
Unauffällig in Ürümqi
Auf den ersten Blick unterscheidet sich Ürümqi wenig von anderen sogenannten Second-Tier-Städten. Es ist weniger auf Hochglanz poliert als Peking oder Shanghai, sein Lebensrhythmus ist entspannter. Das U-Bahn-Netz wird gerade gebaut. Die Plakate und Banner scheinen veraltet und die Kommunistische Partei lobt sich hier so unverhohlen, wie es im Osten Chinas nicht mehr en vogue ist. Romantisierende Darstellungen von Minderheiten und dazugehörige Beschwörungen des Vielvölkerstaats sind allgegenwärtig.
Durch einen früheren Chinaaustausch während der Gymnasialzeit hatte ich bereits Schüler aus Xinjiang kennen gelernt. Trotzdem belief sich mein Wissen auf zwei Brocken Uigurisch, eine Faszination für uigurischen Tanz, Hörensagen und Zeilen aus der Zeitung. Ich entschied mich aus dreifacher Neugier für ein Semester an der Xinjiang-Universität: Ich wollte wissen, ob mein Stipendiengeber, das chinesische Bildungsministerium, diese Wahl überhaupt genehmigen würde; ich wollte endlich die Heimat meiner Schulfreunde kennen lernen; vor allem aber wollte ich den vielen Vorurteilen auf den Grund gehen, mit denen die Region behaftet ist, und außerhalb eines Studiums schien ein längerer Aufenthalt schwer möglich.
Als ich im September 2014 ankam, war die Stadt trotz ihrer Nähe zur Wüste grün, warm und luftig. Es gab Wassermelonen an jeder Straßenecke, bis in den Winter, der ein richtiger Winter war, mit Schneefall von Oktober bis April. Die vielen Bäckereien erinnern ein bisschen an Deutschland. Uigurische Gerichte sind tendenziell fleischlastig – Reis mit Ziegenfleisch und Karotten; Teigtaschen; Huhn mit Bandnudeln, Kartoffeln und Paprika –, aber als Vegetarierin überlebte ich gut. Ich fand fleischlose Varianten, freundete mich mit Obst- und Gemüsehändlern an und habe eine Vorliebe für Ayran entwickelt. Gastgeber bedauerten mich dafür, viel zu verpassen, empfanden es aber als selbstverständlichen Teil ihrer Gastfreundschaft, mir entgegenzukommen. Vor allem aber findet sich auf dem Campus und in der Stadt die ganze Vielfalt regionaler chinesischer Küchen.
Xinjiang ist nicht das “typische China” aus Kungfu und Kanto-Pop und Wirtschaftswunder, das von den deutschen Medien gern beschworen wird. Das aber macht den besonderen Reiz aus: hier wird man schnell von Voreingenommenheit befreit, gewöhnt sich an die Ortszeit, die der offiziellen Pekinger Zeit zum Trotz verwendet wird, an Kamele vor der Universität, an Essgelage auf dem Boden. Als Vorteil empfand ich dabei, als weiße Frau oft einer ethnischen Minderheit zugerechnet zu werden. Im Bus zog ich keine Blicke auf mich, im Supermarkt wurde ich ausschließlich auf Uigurisch und Chinesisch angesprochen. Das war angenehm.
Zentralasien in China
Die Universität sah vor, dass ich einen Studiengang speziell für ausländische Studenten besuchen sollte. Ich handelte einen Wechsel zum Masterstudiengang Moderne Literatur aus. Ein Vorteil davon, nicht an einer vor Prestige träge gewordenen Universität zu studieren: Flexibilität. Der Unterricht war interessant und anspruchsvoll. Wegen mangelnder Sprachkenntnisse konnte ich leider nicht die auf Uigurisch abgehaltenen Vorlesungen besuchen, sie stehen aber jedem offen.
Uigurisch ist eine Turksprache, verwandt mit Türkisch und den zentralasiatischen Sprachen. Die Schrift basiert auf dem arabischen Alphabet. Wer Uigurisch lernen möchte, ist an der Xinjiang-Universität gut aufgehoben: mein Interesse stieß bei Kommilitonen und Professoren auf begeisterte Unterstützung. Viele haben sogar Aufenthalte in Deutschland hinter sich. Dank kolonialistischer “Erkundungsreisen” deutscher Abenteurer lagern wichtige uigurische Dokumente heute in deutschen Archiven.
Das Leben auf dem Campus ist von der Außenwelt vergleichsweise abgeschirmt. Kontakt zur uigurischen Gesellschaft musste ich aktiv suchen. Das uigurische Viertel, in dem der Campus liegt, gab dazu Gelegenheit, Ausflüge aufs Land oder in andere Städte boten wiederum neue Einblicke. In der Nähe von Turpan, für seine Trauben und Rosinen bekannt, übernachtete ich in einem kleinen, staubigen, idyllischen Dorf und tanzte auf einer fulminanten Hochzeitsfeier. Die Stadt Kaxgar („Käschgär“) mit der gelben Heytgah-Moschee aus dem 15. Jahrhundert und der Altstadt aus Lehmhäusern, die anstelle Kabuls die Kulisse für den Film „Drachenläufer“ abgaben, ist viel stärker uigurisch geprägt als Ürümqi.
Letztendlich habe ich aber mehr Russisch als Uigurisch gelernt. Das lag daran, dass alle ausländischen Studenten, wie in China üblich, in einem eigenen Wohnheim untergebracht waren. Der starke Zusammenhalt zwischen den Studenten im Wohnheim war der Hauptgrund dafür, dass ich mich in Ürümqi so wohl fühlte, und bescherte mir lange abendliche Gespräche in gemütlicher, Schwarztee schlürfender Runde; gemeinsame Opferfest- und Neujahrsfeiern; Freunde fürs Leben. Die große Mehrheit meiner Kommilitonen kam aus Zentralasien, und Russisch war im Aufzug und auf den Gängen die Lingua Franca. Mein neu entdecktes Interesse an der russischen Sprache wurde so zu einem unerwarteten, aber zentralen Aspekt des Semesters.
Parallele Welten und heimliches Beten
Zu guter Letzt: Vorbehalte bezüglich sozialer Spannungen sind nicht unbegründet. Starke Feindseligkeiten zwischen Einzelpersonen sind mir nicht begegnet, stattdessen war es auffällig, wie konsequent Uiguren und Han aneinander vorbei leben. So hat meine Klasse zwar gemeinsame Feiern veranstaltet und einen freundlichen Umgang gepflegt, im Alltag gab es dennoch klare Grenzen entlang Sprache, Essgewohnheiten und -vorschriften, Religion, Kultur und Interessen. Die jeweiligen Lebenswelten sind so verschieden und überlappen so wenig, dass es nicht übertrieben scheint, von einer Parallelgesellschaft zu sprechen. Vorurteile gibt es auf beiden Seiten.
Einen großen Einfluss auf unseren Alltag hatten die zweifelhaften Gesetze, die Xinjiang zu einer Sonderzone innerhalb Chinas machen. Es gibt ein Kopftuch- und Bartverbot, an den Bushaltestellen werden Sicherheitskontrollen durchgeführt, Panzerwagen sind ein häufiger Anblick. Die Internetgeschwindigkeit ist in vielen Teilen der Region stark gedrosselt (2009 wurde das Internet zwischenzeitlich ganz abgestellt). Vielen Uiguren wurden die Pässe abgenommen, um sie von der Ausreise abzuhalten. In Kaxgar werden jungen uigurischen Männern routinemäßig die Handys abgefordert, diese nach belastenden Nachrichten und Musik durchsucht – racial profiling in Reinform also. An Flughäfen müssen Uiguren oft stundenlange Kontrollen über sich ergehen lassen.
Öffentliche Glaubensbekenntnisse werden von den Behörden zugleich als Symptom und Auslöser von religiösem Fanatismus gewertet, daher ist Fasten während des Ramadan nicht gern gesehen, Studenten dürfen offiziell nicht beten und keinerlei Gottesdienst besuchen. Soviel ich weiß, gilt letzteres Verbot in ganz China als eine Art „Jugendschutz“, wird aber nicht beachtet. Wir hingegen wurden gleich zu Anfang des Semesters unter Androhung von Exmatrikulation und Stipendienkürzungen darauf aufmerksam gemacht.
In der Praxis hieß das, sich nicht sehen zu lassen. So besuchten wir keine Moschee, beteten aber auf unseren Zimmern; versammelten uns im heimeigenen Restaurant und sprachen mit dem Besitzer das Totengebet für einen Verwandten; besuchten sonntags heimlich den Gottesdienst, den ein südkoreanischer Missionar in seinem Friseursalon hielt.
Einer meiner Dozenten hat uns immer wieder dazu angehalten, über Xinjiang im Kontext postkolonialer Theorien nachzudenken und zu schreiben. Diesen Ansatz möchte ich so weitergeben. Die Region ist kompliziert und widersprüchlich, seine Vielfalt nicht in einem Artikel wiederzugeben. Mir fiel der Abschied sehr, sehr schwer. Wer die Chance hat, Xinjiang zu besuchen, sollte das unbedingt tun.
Weiterleitende Links und Literatur:
https://www.farwestchina.com
James Millward: Eurasian Crossroads – A History of Xinjiang
Nick Holdstock: The Tree That Bleeds
Garner Bovingdon: The Uyghurs – Strangers in Their Own Land
Peter Hopkirk: Foreign Devils on The Silk Road
Wang Gang 王刚: English – A Novel (im Original: 英格力士)
Ingrid Widiarto: Yanar, der Uigure (Kinderbuch)
Gulnisna Nazarova: Uyghur – an Elementary Textbook
Tarjei Engesæth et al: Greetings from the Teklimakan – a Handbook of Modern Uyghur (Hier abrufbar: https://kuscholarworks.ku.edu/handle/1808/5624)
Ein bisschen Musik: https://www.youtube.com/watch?v=A7dBCcvoo0I
Texte von 王蒙,李娟,买买提明·吾守尔,帕蒂古丽·麦麦提Uigurische Restaurants gibt es zum Beispiel in München.