Was ist eigentlich Zuhause? Ist es ein Ort, ein Gefühl? Eine einfache Frage ohne einfache Antwort. Das letzte Weihnachten hat mich zum Nachdenken gebracht und mir gezeigt, wie komplex unsere Wahrnehmungen von Zuhause wirklich sind.
Die Weihnachtsfeiertage sind eine merkwürdige Zeit. Erst bricht alles in Hektik und Stress aus, und dann, ganz plötzlich, geht die Uhr auf einmal langsamer. Chris Reas Driving home for Christmas schallt spätestens ab der zweiten Adventswoche aus Supermarkt- und Shoppingcenterlautsprechern. Ich schreibe meiner Mutter am 20. Dezember eine Nachricht über 微信 (wēixìn) – 我快要回家了!*
Zu Weihnachten verbringe ich eine Woche bei meinen Eltern. Völlig normal, könnte man meinen, denn schließlich verbringt man Weihnachten eben zuhause. Seit ich vor sechs Jahren ausgezogen bin, frage ich mich allerdings immer häufiger, was genau dieses Zuhause eigentlich ist.
Zuhause & Erinnern
Natürlich kann zuhause dort sein, wo man aufgewachsen ist. Ich bin in Braunschweig geboren und habe viele Verwandte hier. Für mich hat Braunschweig viel mit Erinnerung zu tun und deshalb vor allem mit der Vergangenheit. Wenn ich am Hauptbahnhof aus dem Fernbus steige, dann fühle ich mich zuhause. Ich kenne mehrere Wege zum Haus meiner Eltern, ich weiß wie lang sie sind und mir fallen Veränderungen an Straßen, Gebäuden und Geschäften auf.
Ich vergleiche Vieles mit früher. Ich erinnere mich an den Park, in dem ich als 15-Jährige Basketball gespielt habe. Ich sehe die Stadthalle und denke an meinen Abiball zurück, und daran, wie ich mit meinen Freundinnen auf den Bänken davor saß, als wir pubertäre Sorgen aus uns heraus weinten. Ich laufe an dem Eckhaus vorbei, in dem mein Vater, meine Onkel und Tanten aufgewachsen sind. Braunschweig ist heimatlich und irgendwie heimelig – besonders das Haus meiner Eltern. In der oberen Etage habe ich in jedem Zimmer mal ein bisschen gewohnt, heute schlafe ich im Arbeitszimmer meiner Mutter.
Zuhause & Sein
Zuhause ist für mich also Erinnerung, die sich irgendwo zwischen dem Wohlfühlen im Altbekannten und dem Erstaunen über (auch die eigene?) Veränderung bewegt. Ich versinke gern mit etwas Melancholie in dieser Erinnerung, meistens sobald ich die Treppe im Haus meiner Eltern nach oben steige. Das Holz unter der dritten Stufe ächzt noch immer dumpf wenn man darauf tritt. Die Tür zum Badezimmer stottert und man muss sich mit etwas Kraft gegen die Klinke lehnen, um den Schlüssel im Schloss drehen zu können. Aus der Abstellkammer hinter dem Gästezimmer spürt man selbst bei geschlossener Tür einen kühlen Luftzug, weil die zerbrochene Scheibe des kleinen Fensters seit Jahren nur provisorisch mit Luftpolsterfolie abgeklebt ist.
Vor allem aber mutet das Gästezimmer, nein, eigentlich das ganze Haus, wie eine etwas schräge Materialisierung von Deutsch- und Chinesischsein an. Schon draußen trifft 100-jähriges Fachwerkhaus – eine alte Tischlerei – auf angebautes chinesisches Spitz(vor-)dach. Daneben ein hochgewachsener Bambusstrauch hinter einem Zaun mit Ornamenten, die man so auch im Yu-Garten in Shanghai wiederfinden könnte. Ich glaube der Zaun ist aus lackiertem Kiefernholz von einer jüngst verendeten Baumarktkette.
Drinnen in der Küche hängt ein chinesisches Rollbild mit klassischem 山水 (shānshuǐ)-Motiv neben einer sehr alten Singer-Nähmaschine. Im Kühlschrank liegt mittelalter Gouda in Scheiben neben einem Glas eingelegtem 豆腐 (dòufu). An Heiligabend essen wir immer 饺子 (jiǎozi), dieses Mal 75 Stück, 25 pro Person, eingetaucht in Essig und Sesamöl. Im Kleiderschrank der Daunenmantel neben dem 旗袍 (qípáo). Im Bücherregal Kant neben Konfuzius. Im Fotoalbum meine Oma und meine 外婆 (wàipó). Und so weiter.
Aber natürlich ist es nicht so einfach, natürlich ist es nicht nur binär. Nicht alles Chinesische ist nur meine Mutter, nicht alles Deutsche nur mein Vater. Wir sind alle mehr als Nationalität, Kultur, Gesellschaft. Und trotzdem denke ich, dieses dazwischen, das bin irgendwie ich. Das Spitzdach am Fachwerkhaus, der Bambus neben den Johannisbeeren, das Rollbild neben der Nähmaschine. Und andersherum. Ich, im greifbaren Zuhause.
Zuhause & Fühlen
“Wo ist zuhause” fragt also irgendwie auch nach “wer bin ich”. Um bei dieser Frage weiterzukommen hilft mir allerdings weniger das tatsächliche Anwesend-sein an einem Ort, sondern eher das gefühlte Zuhause-sein, das Ankommen in einem Moment. Das Gefühl von Geborgenheit und Verständnis. Diese Zeiten, in denen man denkt: genau jetzt bin ich genau hier genau richtig.
Dieses Zuhause finde ich nur bei Menschen. Bei Menschen, denen ich mich nicht mehr erklären muss. Menschen, die mit mir im Berliner Winter Indoor-picknicken. Die mir Tee kochen, wenn ich krank bin und mir Gin nachfüllen, wenn mein Herz gebrochen ist. Mit denen ich Herr der Ringe-Marathons mache. Die mit mir beim Doppelkopf die Zeit vergessen. Mit denen ich verbunden bleibe, egal über welche Entfernungen.
Als ich nach Weihnachten zurück nach Berlin fahre, habe ich sie immer noch nicht so genau gefunden, die Antwort auf die Frage nach dem Zuhause. Ein paar Tage später sehe ich einen TED-Talk des Autoren Pico Iyer zur Frage: Where is home? Iyer, der in England geboren ist und indische Wurzeln hat, spricht darin viel über Transnationalismus, über fluide Identitäten und Kinder mit Eltern unterschiedlicher Herkunft. Ich fühle mich angesprochen, mal mehr, mal weniger. Doch besonders mit einem Satz trifft Iyer meine Gedanken um Zuhause und Identität im Kern: “For more and more of us, home has really less to do with a piece of soil than, you could say, with a piece of soul.”
Ich bleibe also verleitet zu antworten: Home is where your heart is. Und mein Herz ist im Braunschweig von 1998, oder im Shanghai von 2010. Es ächzt mit der dritten Stufe im Haus meiner Eltern und es zählt mit, wie viele Jiaozi ich an Heiligabend essen kann. Und es ist immer angekommen und sicher und vollständig bei meiner Handvoll Menschen, mit denen ich überall zuhause sein könnte.
* 我快要回家了 (wǒ kuài yào huíjiā le) – Bald komme ich nach Hause.