Jost hat mit 33 Jahren nochmal seine Koffer gepackt und verbringt als Stipendiat des DAAD-Programms „Sprache und Praxis“ 16 Monate in China. In seiner Kolumne “Zurück auf Los” berichtet er für sinonerds darüber, wie es ist, einen Neuanfang in China zu machen.
Ich bin hin- und hergerissen und überfordert. Eigentlich war mein Ziel, einmal im Monat zu Papier zu bringen was ich hier in Beijing erlebe. Daran bin ich gleich ordentlich gescheitert. Warum? In der Uni standen die Abschlusstests an und dann gab es noch Weihnachten, das es in meiner Wahrnehmung hier eigentlich gar nicht gegeben hat, aber doch irgendwie immer präsent ist. 33 Jahre europäische Prägung schüttelt man dann doch nicht ab und versucht sich trotz anderer Umwelt wieder an Besinnlichkeit. Im Grunde sind das aber nur kleine Gründe.
Der wahre Grund für meine Unfähigkeit, zu beschreiben wie es mir geht, ist meine Überforderung. Es ist jetzt gute vier Monate her, seit ich mit dem Flugzeug aus Berlin in Beijing gelandet bin und ich stelle fest, dass ich langsam aber sicher im Kulturschock angekommen bin. Ein Mix aus Müdigkeit, gelegentlicher Frustration und jeder Menge Überforderung. Stimmungsschwankungen sind bei mir gerade an der Tagesordnung. Von Frustration und Wut auf der einen Seite und Glücksgefühlen und Euphorie auf der anderen Seite ist alles dabei. Konnte ich meine Gefühle in Deutschland auf einer imaginären Skala von – sagen wir – einem Meter darstellen, brauche ich hier in jede Richtung noch einen Meter mehr. Das Leben in China, die Konfrontation mit den Werten meiner Mitmenschen hier und mit mir selbst verstärken meine Empfindungen – in jede Richtung.
Jeder Tag ein Abenteuer
Vielleicht ist das leichter zu verstehen, wenn ich von ein paar Dingen berichte, die mir hier im Alltag begegnen. Ein imaginärer Tag, aber mit Erlebnissen, die tatsächlich so geschehen:
Um 6:30 Uhr klingelt mein Wecker. Für mich unerträglich früh, aber mein Sprachunterricht beginnt hier schon um acht. Also raus aus dem Bett. Wie jeden Tag prüfe ich auf dem Telefon die aktuellen Luftwerte. Im Herbst waren diese die meiste Zeit gut, im Winter an etlichen Tagen nur schwer zu ertragen. Nehmen wir einen Tag im Dezember und einen Air-Quality-Index-Wert von 200, also eine Einstufung im ungesunden Bereich. Auf meinem Weg aus dem Haus grüßt mich unser Nachtwächter. Während ich in gefilterter Luft geschlafen habe, hat er seit mehreren Stunden bei offener Tür im Eingangsbereich unseres Hauses gesessen.
Als ich entlang der gläsernen Fassaden der Hochhäuser in unserer Nachbarschaft zur U-Bahn laufe und darüber sinniere, wie die Menschen hier mit dem Smog umgehen, begegnet mir eine ältere Frau, die an einer Leine ihr ausgewachsenes Schwein spazieren führt. Das Schwein trägt eine an einem Halsband befestigte rosa Wolldecke wie eine Art Cape auf dem Rücken. Es ist kalt heute.
Der restliche Weg in die Uni ist eher ereignisarm. Dass man an Kreuzungen trotz grüner Ampel immer auf rabiate Rechtsabbieger achten muss, habe ich mittlerweile gelernt. Auch an die U-Bahn während der Rush-Hour habe ich mich gewöhnt, so gut es geht. Zum Glück muss ich nur zwei Stationen fahren.
Dicke Frau, dünne Frau: was darf es sein?
Im Chinesisch-Unterricht geht es heute um Gewohnheiten. Aus dem Text im Lehrbuch lernen wir, dass es eine schlechte Angewohnheit ist, lange aufzubleiben und lange zu schlafen. Unsere Lehrerin bringt uns außerdem bei, dass man sich allgemein gesund ernähren sollte. Was das lange Schlafen angeht, bin ich nicht ganz einer Meinung, kann mich aber irgendwie damit abfinden. Vokabeln und Grammatik muss man ja mit irgendwelchen Beispielen lernen. Dann fragt mich meine Lehrerin, ob ich finde, dass eine Frau schlank (shòu 瘦) oder dick (pàng 胖) sein sollte. In ihrer Präsentation hat sie die Vokabeln mit Bildern einer weißen, schlanken Frau und einer fülligen, asiatischen Frau als Beispiel unterlegt. Ich glaube, dass sie sich dabei wirklich überhaupt nichts gedacht hat und in keiner Weise im Sinn hatte jemanden zu beleidigen. Ich merke in dem Moment aber, wie ich sprachlos werde und in mir meine Werte rebellieren: individuelle Freiheit, Gleichberechtigung, Toleranz. Mir fällt eigentlich nur ein, warum ich diese Frage falsch finde. Ich ringe mir ein „beides ist in Ordnung“ (dōu kěyǐ 都可以) ab.
Solche Momente sind nicht die Regel in meinem Sprachunterricht. Aber im Unterricht oder im Alltag im Gespräch mit Chinesen kommt es immer wieder vor, dass ich völlig unvermittelt damit konfrontiert bin, mir über die Grundlagen meines Menschenbildes und meine über drei Jahrzehnte gebildeten Werte Gedanken zu machen.
Wenn die eigene Prägung nicht passt
Nehmen wir als Beispiel ein Gespräch mit meiner Tandempartnerin, die ich einmal die Woche am Nachmittag treffe. Sie studiert Deutsch und zeigt mir einen Textausschnitt, in dem es darum geht, wie deutsche Eltern sich gegenüber den Lehrern ihrer Kinder verhalten. Ich berichte ihr vom Begriff der „Helikopter-Eltern“ und wir finden im Internet sogar einen deutschsprachigen Artikel, der schildert, wie chinesische Eltern ihre Kinder zu Semesterbeginn in die Uni begleiten und für einige Tage den Campus bevölkern. Beim Lesen stockt meine Tandempartnerin irgendwann: „Ich glaube, ich habe auch Helikopter-Eltern“.
Für mich – und ich unterstelle auch für meine Eltern – war es enorm wichtig, dass ich den Schritt in die Erwachsenenwelt zwar mit ihrer Hilfe, aber für mich allein bewältige. Das Verhältnis zwischen mir und meinen Eltern wandelte sich in diesen Jahren von „Erwachsene und Kind“ zu gleichberechtigten Erwachsenen. Meine Tandempartnerin macht auf mich den Eindruck, dass in ihrer Familie das Verhältnis nicht in der gleichen Form aufgelöst wird und sie das auch gar nicht schlimm findet. Sie ist merklich irritiert vom negativen Ton in dem Artikel, den wir gefunden haben. Zwar will auch sie eine selbständige Erwachsene sein, betont aber auch, dass sie die engen familiären Bindungen schätzt und immer darauf hören wird, was ihre Eltern ihr raten. Am Ende einigen wir uns darauf, dass es am schönsten wäre die positiven Seiten beider Welten zu kombinieren. Familiärer Zusammenhalt mit der Möglichkeit, sich frei entfalten zu können.
In diesem Gespräch wurde ich mit etwas konfrontiert, was mich hier immer wieder beschäftigt. Ich erkenne Verhaltensweisen oder Handlungen, die ich aufgrund meiner Prägung nicht eindeutig gutheiße oder manchmal sogar ablehne. Das Verhalten vieler chinesischer Eltern beispielsweise würde ich als massive Bevormundung empfinden und einem deutschen Freund würde ich womöglich raten, sich ein wenig zu emanzipieren. Hier in China würde ein solcher Ratschlag womöglich ins Leere gehen oder eine Beleidigung darstellen. Meine chinesische Tandempartnerin spürt diese innere Unruhe nicht wie ich, weil sie durch andere Werte geprägt wurde. Und auf einmal weiß ich nicht mehr, ob ich so einfach sagen kann, dass eine Verhaltensweise gut oder schlecht ist. Schließlich geht es meiner Tandempartnerin offensichtlich nicht schlecht. Die Schubladen, in die ich in Deutschland alles was ich erlebte, fein säuberlich einsortieren konnte, funktionieren nicht mehr so gut.
Wer verstehen möchte, muss auch mal leiden
Noch ein Beispiel? Auf dem Heimweg fallen mir die unzähligen Überwachungskameras ins Auge. Die Präsenz von Sicherheitsleuten und Polizei auf den Straßen. In Deutschland verursacht so etwas bei mir immer Unwohlsein. Auf der anderen Seite habe ich mich an noch keinem Ort, an dem ich gelebt habe, so sicher gefühlt, wie in Beijing. Das allein wird mich nicht zum Fan starker Überwachung machen, aber ich merke, wie hier die gefühlte Sicherheit langsam an meinen Grundwerten knabbert und dass ich mich nach vier Monaten hier stärker als noch zu Beginn meines Aufenthalts daran erinnern muss, was die Kehrseite der Medaille ist.
Es ist ungemein spannend, von seinem unmittelbaren Lebensumfeld immer wieder aufs Neue so herausgefordert zu werden und sich immer wieder hinterfragen zu müssen. Es ist zugleich aber auch ungemein anstrengend, wenn einen das Gefühl überkommt, dass man seine Umwelt nicht versteht und der innere Werte-Kompass nicht mehr richtig funktioniert. Wie gehe ich mit diesem Zwiespalt um?
Ich habe mir gewisse Komfortzonen und einen Alltag geschaffen. Das funktioniert mit Freunden aus dem gleichen Kulturkreis oder mit gutem Essen, aber auch ganz alleine durch sich wiederholende Tagesabläufe. Daneben ist es mir aber auch wichtig, die oben beschriebenen Gespräche und Erlebnisse mitzunehmen, weil nur diese mir einen Einblick in chinesisches Leben und Kultur ermöglichen. Das ist häufig zunächst ein schmerzhafter Prozess, weil etliche meiner über Jahre entwickelten Verhaltens- und Denkweisen in Frage gestellt werden.
Wenn man den Gedankenprozess durchlaufen hat, ist es aber auch ungemein beglückend. Als ich mit meiner Tandempartnerin erst einmal festgestellt hatte, welchen kulturellen Unterschieden wir in Fragen zu Familie und individueller Freiheit und Entwicklung ausgesetzt sind, hatte ich das Gefühl tatsächlich etwas verstanden zu haben und einer Verständigung zwischen Deutschen und Chinesen näher gekommen zu sein. Gut, wir sind nur zu zweit. Aber auch das ist ein Anfang und das damit verbundene Glücksgefühl alle Stimmungsschwankungen wert.
Wenn du ihn verpasst hast, solltest du auf jeden Fall auch Josts ersten Bericht aus Beijing lesen.
Die Rechte an allen Bilder im Text liegen beim Autor.