Jost hat mit 33 Jahren nochmal seine Koffer gepackt und verbringt als Stipendiat des DAAD-Programms „Sprache und Praxis“ 16 Monate in China, worüber er in seiner Kolumne „Zurück auf Los“ für sinonerds berichtet. Im Juni endete seine Sprachphase an der Beijing Foreign Studies University. Er wird im Juli in die Praxis wechseln und in einer Anwaltskanzlei arbeiten. Ein guter Zeitpunkt für eine Zwischenbilanz.
Neuneinhalb Monate sind vergangen seit ich in Peking angekommen bin. Eine Zeit, die nur so dahingeflogen ist und mir mehr Erfahrungen ermöglicht hat, als ich es mir je hätte vorstellen können. Eine gute Zeit, zu überlegen, was eigentlich alles passiert ist und vor allem, wie haben sich all diese Erfahrungen auf mich ausgewirkt?
Viel gesehen und trotzdem nur an der Oberfläche gekratzt
Die Fakten zu den letzten Monaten: Den größten Teil meiner Zeit habe ich in der Uni bei meinem Sprachkurs verbracht. Daneben habe ich gemeinsam mit meinen Mit-Stipendiaten aus dem Sprache und Praxis-Programm circa 50 deutsche und chinesische Unternehmen besucht: Handelsfirmen, Berater aus Wirtschaft und Recht, Banken und Versicherungen, Startup-Förderer, Fabriken von Automobilzulieferern, Heizungsbauer oder Hersteller von Sanitärkeramik. Ich habe im Januar Frühlingsfest gefeiert und im April im Café Last Christmas gehört, bin durch Shopping-Malls aus glänzendem Marmor und funkelndem Gold und Silber gelaufen und habe in einem kleinen Supermarkt mein Wasser gekauft, in dem die Besitzer hinter einem Vorhang wohnen. Ich war auf Job- und Wohnungssuche in Peking, bin nach Shanghai, Fujian, Nanjing, Chongqing und Guilin gereist. Ich war glücklich, traurig, optimistisch, müde, pessimistisch, zufrieden, wütend, gerührt, verwirrt und vieles mehr.
Kenne ich mich jetzt mit China aus? Ein definitives nein, aber ich glaube, zumindest ein Gefühl dafür entwickelt zu haben, wie ich in Peking zurechtkomme. Ich begrenze mich ausdrücklich auf Peking, weil die schiere Größe Chinas mich immer wieder sprachlos macht. Eine meiner liebsten Beschäftigungen auf Zugfahrten ist es, auf dem Smartphone zu schauen, an welchen Städten wir vorbeirauschen und wie viele Einwohner diese haben. Schon mal von Dezhou (德州, ca. 6 Millionen Einwohner), Cangzhou (沧州, ca. 7 Millionen Einwohner) oder Quanzhou (泉州, ca. 8 Millionen Einwohner) gehört? Ich auch nicht und ich möchte und kann mir nicht das Attribut anheften, ein Experte für den Rest des Landes zu sein. Als Niedersachse, der zuletzt acht Jahre in Berlin gelebt hat, würde ich auch nicht auf die Idee kommen, mich als Experte für das Saarland oder Rheinland-Pfalz zu bezeichnen. Natürlich kann man an vielen Orten in China gleiche oder vergleichbare kulturelle Eigenheiten vorfinden. Eine meiner gelernten Lektionen ist aber, dass man dies besser nicht voraussetzen und immer wieder überprüfen sollte, ob das einmal Gelernte noch zutrifft.
Grenzen überschreiten…
Wenn es um den Umgang mit Chinesen geht, bin ich nach wie vor schnell überfordert. Wenn wir gemeinsam essen gehen, gelingt es mir selten, eine Rechnung zu begleichen. Zum Glück sehe ich die meisten Leute mehrfach und kann irgendwann von vornherein klarmachen, dass ich nun bezahlen möchte. An Supermarktkassen, Fahrkartenschaltern oder in der U-Bahn muss ich oft länger warten, weil ich mich nicht am allgemeinen Drängeln beteiligen möchte. Eine weitere Feststellung: für jemanden, der in der norddeutschen Tiefebene neben Schafen und Kühen aufgewachsen ist, ist es ein weiter Weg in den täglichen Kampf in einer überbevölkerten Weltstadt.
Es kommt immer wieder vor, dass mich das Leben hier an die Grenzen meiner Belastbarkeit oder darüber hinaus treibt. Ich erlebe dann ein China, das mich mit seiner Rücksichtslosigkeit und seinem Verlangen nach Geld und Macht wütend macht. Es zaubert mit großer Verlässlichkeit zu wichtigen Terminen gute Luft und blaue Himmel nach Peking, nur um mich zwei Tage später umso dreckigere Luft atmen zu lassen. Es nimmt mir mit seinen Millionen Autos die Vorfahrt, wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs bin, weil auf Pekings Kreuzungen das Recht des Stärkeren gilt. Es gibt mir ein Chinesisch-Lehrbuch an die Hand, das nach meinem Empfinden nicht nur den Anspruch hat, mir die Sprache beizubringen, sondern mich auch zu erziehen. Es lässt mich Pläne für ein Social-Credit-System oder Passagen im neuen Cybersecurity-Gesetz lesen, die unweigerlich an George Orwells 1984 erinnern.
Auf der anderen Seite steht das China der Menschen, deren Freundlichkeit und Geduld ich gar nicht in ausreichende Worte fassen kann. Menschen, die mich einladen, mit ihnen Fußball zu spielen und mir danach erzählen, dass außer mir nur alte Freunde aus Kindes- und Jugendzeiten zu der Gruppe gehören. Menschen, die mir geduldig und immer wieder erklären, wie ihr China und chinesische Kultur aussieht und die großzügig darüber hinwegsehen, wenn ich mal wieder eine der Höflichkeitsprozeduren übergehe. Da sind auch die Besitzer des oben genannten Supermarkts oder der Wachmann am Eingang, der im Winter die Nächte bei Minusgraden neben einer kleinen Elektroheizung verbringt. Alle diese Menschen grüßen uns jedes Mal mit einem freudigen Lächeln. Wenn ich die große Distanz betrachte, die zwischen ihrem und meinem Leben liegt, wäre es naheliegend, dass sie von mir denken, dass ich ein reicher Schnösel bin, der sich nicht integriert und ihnen oder anderen Chinesen Möglichkeiten oder Arbeitsplätze wegnimmt. Bislang hat mir aber noch niemand ein solches Gefühl gegeben.
… und neu definieren
Solche Momente machen mich sehr demütig und verändern insbesondere meine Perspektive auf mein Leben in Deutschland. Ich komme mir mittlerweile sehr merkwürdig vor, wenn ich darüber nachdenke, dass ich mit meinem gutbezahlten und abwechslungsreichen Job in Deutschland unzufrieden war. Ähnlich geht es mir, wenn ich Artikel über Flüchtlinge und deren Integration in Deutschland lese und feststellen muss, wie schwer es mir fällt, mich hier in die Gesellschaft zu integrieren. Damit meine ich nicht, dass es mir die chinesische Gesellschaft schwer machen würde, sondern meine über all die Jahre liebgewonnen Gewohnheiten, die ich nicht aufgeben kann. Zum Beispiel, wenn ich feststelle, dass ich hin und wieder ein gutes Brot brauche, um mich wohlzufühlen oder dass ich die meiste Zeit deutsch spreche, dass mein Chinesisch mehr als fehlerhaft ist und ich mich meist in einer Blase von Ausländern bewege.
Ich kann viele weitere Dinge aufzählen, die mich am Leben in China faszinieren. Das fantastische Essen, das man fast überall bekommt. Die Ausstrahlung von Peking an den Tagen, an denen die Luft gut ist und alle Menschen so glücklich wirken. Die quasi über Nacht entstandene Möglichkeit, sich an wirklich jeder Ecke der Stadt ein Leihfahrrad zu nehmen und es an jeder beliebigen anderen Ecke wieder abzustellen. Mahjong oder Karten spielende Männer, die sich auf ihre Bäuche klatschen. Überpünktliche Züge, die niemals in verkehrter Wagenreihung in den Bahnhof fahren. Oder die ganzen Millionenstädte, von denen ich noch nie gehört habe.
Was macht das alles aus mir?
Ich kann schon jetzt sagen, dass die Zeit in China mein Leben auf viele Jahre hin bereichert, ganz unabhängig davon, wie lange ich noch hier leben werde. Das Leben hier befördert mich immer wieder aus meiner persönlichen Komfortzone und zwingt mich dazu, mich und meine Lebenseinstellung zu hinterfragen. Das ist bisweilen ein schmerzhafter Prozess, hilft mir aber, meinen inneren Kompass zu justieren und darüber bin ich sehr glücklich. Trotz mancher kurzfristiger Wutanfälle habe ich das Gefühl, gelassener geworden zu sein, zum Beispiel im Kleinen, wenn es darum geht, sich im hektischen Verkehr zurecht zu finden, oder im Großen, wenn es darum geht, darauf zu vertrauen, dass die Dinge schon irgendwie klappen werden, auch wenn nicht alles läuft wie geplant.
Insgesamt bleibt die Entscheidung, hier zu leben, immer ein Kompromiss. Zwischen dem Un-Freiraum der überbevölkerten Stadt mit ihrer schlechten Luft und dem Freiraum, der sich mir bietet, um mich persönlich und beruflich zu entwickeln. Ich bin sicher, dass das Pendel irgendwann wieder Richtung Deutschland ausschlagen wird, aber gerade hoffe ich, dass es mir in Zukunft leichter fällt, mich für China zu entscheiden. Ich habe das Gefühl, hier gerade erst anzukommen. Ich wünsche mir, Chinesisch noch ein bisschen besser sprechen zu können So kann ich die Geduld meiner chinesischen Freunde ein bisschen weniger strapazieren, noch mehr über China lernen und besser zwischen China und Deutschland vermitteln. Ich möchte die Entwicklung von China weiterhin so unmittelbar verfolgen können und jeden Tag in dem Wissen aus dem Haus gehen, dass wahrscheinlich irgendetwas passiert, das ich nicht vorhersehe.
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