Chenchenchen 陈陈陈 ist 30 Jahre alt und hat 671 To-Dos auf seiner App Wunderlist stehen, die er noch vor 40 erledigen möchte. Drei Spielfilme zu drehen sind wohl die ambitioniertesten. Einer davon soll „Successology“ behandeln, das Thema seiner Doktorarbeit. Hierbei werden zwei für ihn zentrale Themen der chinesischen Gesellschaft miteinander verknüpft: Erfolg, und im weiteren Sinne Macht („Success“) und Nachfolge („Succession“). Das sind auch die Themen, die sich in Chenchenchens Soloshow wiederfinden.
sinonerds: Willkommen in Berlin! Lass uns gemeinsam einen Blick auf deine Ausstellung werfen: in dem Videospiel „Possible Babies“ lädst du die Besucher aktiv zum Mitspielen ein. Hier hast du mittels einer App Fotos von dir und 200 potenziellen Müttern deiner Kinder zusammengeführt. Und das bemerkenswerte: die so geschaffene digitale Kinderschar ist der Gegner in deinem Videospiel. Denn der Ausstellungsbesucher bekommt eine Waffe in die Hand und hat den Auftrag, dich, Chenchenchen, als Anführer und Vater, zu finden und zu töten. Dafür müssen auch einige deiner “Kinder” getötet werden.
Wie haben wir diesen Aufruf zur Selbstzerstörung zu verstehen?
Chenchenchen: Männliche Gedanken und Schuldgefühle sind ein zentrales Thema dieses Werks. Das Konzept ist auf einen Film zurückzuführen, in dem der Häuptling einer großen Sippe die Hauptrolle hat. Er ist der Einzige, der sich fortpflanzen kann. Das ist aus Männersicht natürlich sehr interessant. In dem Videospiel bin ich der Häuptling und erschaffe ein Paralleluniversum mit mir und meinen Kindern, in dem ich die Regeln bestimme. Diese Idee fasziniert mich; aber gleichzeitig fühle ich mich deswegen schuldig und rufe sogar zum Mord an mir auf.
Wie hast du die Frauen ausgewählt?
Ich kenne die Frauen tatsächlich persönlich und könnte sie im echten Leben berühren. Zumindest rein biologisch könnten sie also Mütter meiner Kinder sein. Die Bilder nahm ich dann aus dem Internet und fand es interessant, auf diese Weise virtuell Kinder zu zeugen. Männer kümmern sich mehr um Kinder, wenn sie ihnen ähnlich sehen. Menschen wollen sich fortpflanzen und sich selber in den eigenen Kindern wiederfinden, vor allem visuell.
Bist du gespannt auf die Diskussionen, die dieses Werk auslösen wird?
Sehr. Das Werk ist emotional sehr tief und ich kann es nicht in einem Satz erklären, da es sehr viele Ideen umfasst. Man muss es selber sehen. Ich bin gespannt auf die Sichtweisen: Wird es heißen: „Wow, das ist ein sehr machohaftes Werk?“ Es ist nicht meine Intention, aber mich würde interessieren, ob sich die Frauen hier von dieser Installation missachtet fühlen. In China wurde ich von Frauen und Feministengruppen stark angefeindet – ich bin gespannt, wie das westliche Publikum reagiert.
Kommen wir zu deiner Arbeit „The Mercy of Not Killing“. Bei der Performance hast du Bauarbeiter an einen 34 Meter hohen Turm in Wuxi gehängt. Auch dieses Projekt ist sehr krass und kontrovers. Was hat dich dazu inspiriert?
Das geht zurück auf einen Vorfall in 2009, als ein unter den Kommilitonen sehr geschätzter Student ohne erkennbaren Grund seinen Mitbewohner umbrachte. Das hat landesweit für großes Aufsehen gesorgt und zu Diskussion geführt. Es klingt makaber, aber seitdem danken Studenten bei ihrer Abschlusszeremonie ihren Mitbewohnern, dass sie sie am Leben gelassen haben.
Beim Betreten der Videoinstallation stehen die Besucher oben auf dem Turm und sehen in die Gesichter der sich am Abgrund festklammernden Männer. Welches Gefühl willst du beim Betrachter auslösen? Geht es hier eher um die Macht der Gnade oder um das Gefühl der Hilfsbereitschaft?
Das Wort „Mercy“ oder 恩 ist hier eher als Geschenk denn Gnade zu verstehen. In China sind zwischenmenschliche Beziehungen aufgeladener als hier. Es ist weniger harmonisch, sondern geht eher um permanente Konkurrenz. Aber wir sind nicht mehr im Dschungel, in dem jeder gegen jeden zu kämpfen hat, sondern schenken dem anderen, dass wir ihn am Leben lassen.
Wir beide haben uns gerade erst getroffen und doch scheinst du mir zu vertrauen und gehst davon aus, dass ich dich nicht umbringe (lacht).
Was sagt dein Werk über die heutige chinesische Gesellschaft aus?
Der Druck ist immer vorhanden. Junge Chinesen versuchen immer mehr zu Individualisten zu werden.
Wie siehst du das? Glaubst du, das ist eine gute Entwicklung? Ist es sinnvoll oder zwecklos sich gegen die eigene Kultur aufzulehnen?
Ich persönlich finde das gut. Meine Mutter hat mich sehr westlich erzogen, mein Vater ist das Gegenteil und rät mir zur Mäßigung und dazu, ein “normales” Leben anzustreben. Somit kenne ich beide Sichtweisen. Als Künstler hat man aber nochmal eine andere Lebensform.
Wie aufwendig war das Erstellen von “The Mercy of Not Killing”?
Sehr aufwendig, aber aus meiner Sicht nötig. Die Möglichkeiten des kommerziellen Film sind heute so stark, der Versuch der Imitation wäre lächerlich. Das Einzige, was ein Künstler machen muss, ist etwas Wahrhaftiges zu erschaffen. Jeder hat mir zum einfachen Weg geraten und gemeint, ich solle die Idee in einer Greenbox umsetzen.
Aber darum geht es nicht. Der Aufwand ist Teil des Werkes: das Einholen der Genehmigungen, die Überzeugungsarbeit, all die Bürokratie. Wenn einer der Männer gestürzt wäre, wäre mein Leben am Ende gewesen. Das würde niemand einfach so nachmachen. Es wäre Wahnsinn, das zu kopieren. Dabei geht nicht um die Technik, sondern um die Hingabe, den Aufwand.
Du bekamst für dieses Werk Unterstützung vom Ullens Center for Contemporary Art. Welche Möglichkeiten der Förderung gibt es heute für junge Künstler in China?
Gute Frage. In China gibt es schon eine Reihe von Möglichkeiten, Unterstützung zu bekommen. Attraktiver ist es aber eher für junge Kuratoren, für die es sehr viel mehr Wettbewerbe gibt. Auch ist das Preisgeld deutlich höher als für Künstler.
Inwieweit denkst du an den Kunstmarkt? Versuchst du, für ein globales Publikum interessant zu sein?
Ich habe für mich entschieden, mich nicht auf den Ertrag zeitgenössischer Kunst zu verlassen. Wenn ich Kunst kreieren will, dann kann ich machen was ich will. Aber meine Kunst verkauft sich nicht so einfach. Das Video-Setting ist zu kompliziert, oder keiner will das Spiel kaufen. Ich bestreite meinen Lebensunterhalt daher als Art Director und Musiker.
Vielen Dank für deine Zeit und viel Erfolg für deine weiteren Projekte.
Chenchenchens “The Mercy of Not Killing” ist bei Migrant Bird Space in Kooperation mit der Pop-Up Galerie “MO-Industries”, die die Ausstellung kuratierte und nach Berlin brachte.
15. Juni – 20. Juli 2018
Koppenplatz 5, 10115 Berlin
Titelbild credit: CCC in his installation in Berlin by Andrea Katheder. sinonerds bedankt sich beim Migrant Bird Space, Mo Industries, Eva Morawietz und Andrea Katheder für die Bilder in diesem Interview. Das Gespräch wurde vom Englischen ins Deutsche übersetzt.