Felix begab sich auf eine Reise durch Xinjiang, den “Wilden Westen” Chinas. Für sinonerds berichtet er, was er dort erlebt hat, und warum sich die Tour lohnt.
Von Hongkong im Süden bis Peking im Norden – einige der prosperierenden Millionenstädte der Ostküste hatte ich im Laufe meines Freiwilligendienstes schon zu Gesicht bekommen. Doch China ist mehr, auch wenn die offizielle Außendarstellung dies nicht unbedingt betont. Um das Land buchstäblich von einer neuen Seite kennenzulernen, fassten drei Freunde und ich daher im Sommer 2011 den Beschluss, unser Auslandsjahr mit einer Reise nach Westen zu beenden.
Sengende Hitze empfängt uns in Xinjiang, der westlichsten Provinz Chinas. Hier erstreckt sich die Taklamakan-Wüste, die schon von Händlern auf der Seidenstraße tunlichst gemieden wurde. Doch statt exotischer Basare in Oasenstädten heißt uns Ürümqi, die Provinzhauptstadt, mit seinen uniformen Wohnsilos willkommen. Aufgrund großer Erdölvorkommen durchlebt die Stadt einen rasanten wirtschaftlichen Bedeutungszuwachs und lockt viele Han-Chinesen an. Deren Zahl ist mittlerweile so groß, dass es aus Protest gegen die drohende kulturelle Marginalisierung immer wieder zu gewaltsamen Protesten durch die nationale Minderheit der Uiguren kommt.
Bald kehren wir der Hauptstadt den Rücken und besteigen mit einer großen Gruppe Einheimischer einen doppelstöckigen Schlafbus, der uns in 25 Stunden nach Kashgar im Südwesten bringen soll. Kaum haben wir es uns in den vor Schmutz starrenden Betten auf gut eineinhalb Metern bequem gemacht, da verbreitet sich ein unangenehm penetranter Geruchscocktail aus Knoblauch und Käsefüßen. Weder die unzuverlässige Klimaanlage, noch die direkt über uns schallenden arabischen Rhythmen schaffen Abhilfe. Am nächsten Morgen holen wir zum Vergeltungsschlag aus und frühstücken, unseren Mitfahrern gleich, rohen Knoblauch–ohne diese jedoch auch nur im Geringsten zu beeindrucken.
Kashgar immerhin entschädigt für vieles. Wenig erinnert hier noch an das klassische China-Bild: Auf den Straßenschildern dominiert arabische Schrift und statt Reis zählen Nudeln und Brot zu den Grundnahrungsmitteln. Auf den unübersichtlichen Basaren bieten verschleierte Frauen ihre Waren feil, und die Stände bersten schier unter der Last unzähliger Melonensorten.
Hier machen wir uns erstmals unsere guanxi, unsere Beziehungen, zunutze und treffen den (zugegebenermaßen: über sehr viele Ecken bekannten) Arzt Kahar im Krankenhaus. Er hilft uns, einen Kameltrip in die Wüste zu planen, sodass wir zwei Tage später unsere schaukelnden Reittiere von einem Kameltreiber auf meterhohen Dünen navigieren lassen. Von der windgeschützten Warte unseres Nachtlagers aus genießen wir – zum ersten Mal in China – den Sternenhimmel und absolute Stille.
Eine gänzlich andere Szenerie bietet sich auf der Schnellstraße Richtung Pakistan. In 3500 Metern Höhe liegt, umringt von schneebedeckten Gipfeln, der Karakul-See. Nachdem wir die Nacht unter einer Vielzahl schwerer Decken in einer Jurte verbracht haben und wider Erwarten kein Bus kommt, lassen wir uns von einem Angehörigen der dortigen Volksgruppe auf Motorrädern zu seiner Behausung verfrachten. Dort wärmen wir uns an einer Schüssel frischen Yak-Milchtees die Hände und teilen uns mit weiteren Familienmitgliedern ein Reisgericht und den ebenfalls aus Yak-Milch zubereiteten Joghurt.
Abermals verschaffen uns in Ürümqi unsere guanxi den Kontakt zu einem Arzt, der uns allerdings „nur“ seinen Assistenten Jason schicken kann. Kennen tut der uns nicht, dennoch zeigt er uns den uigurischen Stadtteil und fachsimpelt mit uns über die deutsche und die italienische Fußball-Liga. Bei einer Schale „Crazy Iced Joghurt“ (einer Mischung aus Joghurt, Eis und Unmengen von Honig) gelingt es ihm, uns auch mit dieser Stadt zu versöhnen – und unsere Dankbarkeit ist angesichts einer solchen Gastfreundschaft nicht mehr weit von einem schlechten Gewissen entfernt.
Die Volksrepublik China hat viele Gesichter – das wird jedem Reisenden in Xinjiang deutlich. Wer das Land für längere Zeit bereist und Gelegenheit hat, die ausgetretenen Touristenpfade im Osten zu verlassen, sollte diese Chance unbedingt nutzen und mit Bewohnern Xinjiangs ins Gespräch kommen. Ein wenig Bewusstsein für die spannungsgeladene Geschichte der Region darf dabei im Gepäck nicht fehlen!