Bis heute gibt es kaum eine Familie in China, die nicht noch die Auswirkungen der Kulturrevolution spürt. Obwohl ihr Ende schon über 40 Jahre zurück liegt, ist die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels noch lange nicht abgeschlossen. Die Ausstellung “Arbeiten in Geschichte: Zeitgenössische Chinesische Fotografie und die Kulturrevolution” in Berlins Museum für Fotografie will mit modernen Fotos sowie aus der Zeit von 1966-76 einen Beitrag dazu leisten. Im ersten Teil berichtet Jasmin von der Eröffnung, im zweiten Teil erzählt Ruixuan ihre Eindrücke von der Ausstellung auf Chinesisch.
Ruixuan und ich leben schon seit Jahren in Berlin, sind begeistert von Kunst und Fotografie und haben es dennoch beide, auf unerklärliche Weise, noch nicht geschafft ins Museum für Fotografie zu gehen. Eine neue Ausstellung über zeitgenössische Fotografie mit dem Schwerpunkt Kulturrevolution ist da wohl endlich der richtige Zeitpunkt, dies zu ändern!
Als wir zwei uns abends vor den Toren des Museums direkt neben dem Bahnhof Zoo treffen, wissen wir noch nicht, dass zur Eröffnung auch drei der 18 ausgestellten Künstler anwesend sein werden. Cai Dongdong (蔡东东), Cao Kai (曹凯) und Wang Qingsong (王庆松) werden nach vielzähligen Willkommensreden und Danksagungen auf die Bühne gerufen und mich ergreift ein wohlig warmes Gefühl, den Fotografen Wang Qingsong vor mir stehen zu sehen, über den ich vor drei Jahren noch einen Vortrag in meinem Unikurs zum Thema Moderne Fotografie in China gehalten hatte.
Wir quetschen uns an den anderen, zahlreich erschienenen Museumsbesuchern vorbei und erhalten einen Einblick in Chinas gegenwärtige Fotografie; eine Bewegung, die sich traut nicht nur nach vorne, sondern auch zurück zu blicken, zu reflektieren, kritisch zu sein. Auf den Bildern vor uns sehen wir alte Versammlungshallen, die früher Schauplätze einer Revolution waren und jetzt wie leergefegt wirken. Wir sehen Wang Ningdes (王宁德) Fotoreihe „Einige Tage“, die mysteriös angehauchte und verträumte Momentaufnahmen zeigt und dem Betrachter Raum für eigene Interpretation lässt.
Besonders Nr. 30 dieser Fotoreihe zieht mich sanft in seinen Bann: Zwei Fahrradfahrer, die mit geschlossenen Augen der Sonne entgegenfahren, ihre Körper nur zur Hälfte sichtbar, während im Hintergrund weiße Wolken an ihnen vorbeiziehen. Neben einer Videoinszenierung und einem Computer-Programm, darf der Besucher auch mit Bilderzangen aktiv werden und in Wasserbecken Fotos umdrehen, herausnehmen und betrachten.
Doch nicht nur gegenwärtige Bilder sind im ersten Obergeschoss des Museums ausgestellt, sondern auch Portraits, Passbilder, Propaganda-Plakate und Presseaufnahmen von Mao Zedong sind dabei. Ehemalige Schwarz-Weiß-Fotos, die mit kräftigen Farben zu neuem Leben erweckt werden, bieten einen anderen, intensiven Einblick in Momente zur Zeit der Kulturrevolution, die im ganzen Land ab 1966 zehn Jahre lang wütete.
Und – dies noch am Rande: Wir sind um ein paar Selfies mit Seltenheitswert reicher! Wer jetzt Lust bekommen hat, Ruixuans Eindrücke zu der Ausstellung (auf Chinesisch) zu lesen, kann gleich zum folgenden Artikel weitergehen.
Die Ausstellung „Arbeiten in Geschichte: Zeitgenössische Chinesische Fotografie und die Kulturrevolution“ ist noch bis zum 7. Januar 2018 im Museum für Fotografie in Berlin zu sehen. Die Ausstellung ist nicht nur für alle China-Interessierten ein absoluter Gewinn, auch Geschichtsbegeisterte oder die, die noch nie im Museum für Fotografie waren und schon immer mal rein wollten, kommen voll auf ihre Kosten.
Adresse: Museum für Fotografie, Jebensstraße 2, 10623 Berlin
Öffnungszeiten: Di, Mi, Fr, Sa & So: 11-19 Uhr; Do 11-20 Uhr, Mo geschlossen
Eintrittspreise: 10 Euro, ermäßigt 5 Euro, 2 Euro Rabatt bei Vorlage eines C/O Berlin-Passes
Führungen: Sonntag 16 Uhr, 4 Euro
www.smb.museum/mf
Titelbild: People Crossing the Yellow River with a Photo of Mao Zedong, Henan, 2012 © Zhang Kechun. Alle Bilder der Künstler wurden mit der freundlichen Erlaubnis des Museums für Fotografie verwendet. sinonerds sagt danke! Alle übrigen Bilder © Jasmin Oertel für sinonerds.