Zunehmendes Selbstbewusstsein und Emanzipation: Die Entstehung chinesischer LGBT-Selbstorganisationen
Wie jede andere Form der nichtstaatlichen Organisation in China haben auch NGOs, die sich für die Rechte von gleichgeschlechtlicher Liebe einsetzen, mit regelmäßigen Repressionen zu rechnen. LGBT-Organisationen können sich nicht offiziell registrieren lassen und sind daher im Untergrund tätig.
„Es gibt viele chinesische Aktivistinnen und Aktivisten in der LGBT-Szene, obwohl sie in der öffentlichen Wahrnehmung nicht sehr präsent sind“, sagt Kimiko Suda. Sie hat 2005 und während der Olympischen Spiele 2008 in der chinesischen Hauptstadt lesbische Selbstorganisationen untersucht. Nach ihren Forschungs-aufenthalten hat sie ein Buch dazu veröffentlicht: „Chinese lala Organizing. Identität und Repräsentation lesbischer Frauen in Beijing“.[7] Lala (拉拉) ist eine geläufige Bezeichnung für lesbische Frauen. Einst als abwertende Bezeichnung gedacht, haben die Frauen sich diese Bezeichnung angeeignet und ihr durch ein selbstbewusstes Tragen dieses Labels eine neue Bedeutung verliehen. Angeblich stammt der Begriff aus dem 2004 erschienen Roman von Cui Zi’en 崔子恩, einem Filmemacher, Autor und LGBT-Aktivisten in Beijing. Eine andere geläufige Selbstbezeichnung ist „les“, eine Abkürzung des englischen Lesbian.[8]
Kurz vor den Olympischen Spielen in Beijing wurden Treffpunkte von Schwulen von staatlichen Sicherheitskräften geschlossen und bekannte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von lesbisch-schwulen NGOs dazu aufgefordert, ihre Aktivitäten im Vorfeld und während der Ausrichtung der Spiele einzustellen und sich ruhig zu verhalten. 2012 gab es vor dem 18. Parteitag der Kommunistischen Partei ähnliche Anweisungen von den chinesischen Sicherheitsbehörden.[9]
Was Suda während ihrer Feldforschung am meisten überrascht hat, war die Kreativität der Aktivisten trotz all dieser Repressionen. Ein Beispiel ist das Beijing Queer Filmfestival, das 2005 in den Räumlichkeiten der Peking Universität stattfinden sollte. Kurz vor der Veranstaltung wurde die Nutzung der Räume „aus technischen Gründen“ untersagt. Aber die Betroffenen reagierten schnell und konnten sich einen neuen Veranstaltungsort im Kunstdistrikt 798 organisieren. Mittels einer spontan gebildeten Telefonkette wurde die geänderte Räumlichkeit durchgegeben und so konnte das Festival doch noch stattfinden, ohne dass die Behörden davon Wind bekamen. Das geschah noch vor dem Entstehen sozialer Netzwerke wie WeChat, die China grundlegend verändert haben.
Vernetzung im Zeitalter des Internets
Mit dem Aufkommen des Internets und der sozialen Medien entstanden neue Möglichkeiten der Kommunikation und Organisation jenseits der staatlich kontrollierten Kanäle – auch für die LGBT-Bewegung.[10] Plötzlich war die Vernetzung nicht nur auf regionaler Ebene schneller und einfacher, sondern ging auch über Provinz- und nationale Grenzen hinaus. Trotz Zensur ist das Internet der einfachste Kanal für lokale schwule und lesbische Aktivisten und wurde deshalb zum wichtigen Mittel für die Entstehung neuer Graswurzelorganisationen.
Die Online-Kommunikation ermöglicht chinesischen LGBT’lern zudem den Anschluss an die internationale LGBT-Bewegung. Suda war beeindruckt von dem Ausmaß der internationalen Vernetzung der chinesischen Aktivistinnen: „Es gab einen regen Austausch mit Hongkong und Taiwan, wo es eine lebhafte Szene gibt. In Taiwan gibt es zum Beispiel auch eine kommerzielle Zeitschrift für lesbische Frauen, die sich unter anderem mit dem „butch-femme“-Look beschäftigt, bei dem mit den Gegensätzen „maskulin“ und „feminin“ gespielt wird. Aber es gibt auch viel Kontakt mit den USA und anderen Ländern. Man lud sich gegenseitig auf Veranstaltungen ein, wie Filmfestivals oder Konferenzen, um Erfahrungen auszutauschen und sich gegenseitig zu unterstützen.“
Aber auch im Landesinneren hat sich einiges getan. Nachdem 1995 die vierte UN-Weltfrauenkonferenz in Beijing stattfand, entstanden mehrere Nichtregierungs-organisationen, die sich für Frauenrechte und sexuelle Selbstbestimmung als Grundrecht einsetzen. Die NGOs sind auch eine wichtige Anlaufstelle für Betroffene in ihrem Alltag und bieten psychologische, medizinische und rechtliche Beratung an sowie Plattformen für die Vernetzung innerhalb der Szene. Außerdem helfen sie Künstlern und Kulturschaffenden dabei, Projektgelder zu beantragen.
Das Zentrum der LGBT-Aktivisten ist vor allem Beijing, wo auch das Beijing LGBT Center (北京同志文博中心) sitzt, das viele landesweite Aktivitäten organisiert. Dazu gehört auch das oben genannte jährlich stattfindende „Beijing Queer Film Festival“, das bis in die entlegensten Provinzen wie die Innere Mongolei oder Xinjiang reist. An Universitäten organisieren die Aktivisten Workshops, unter der Verwendung von harmlos klingenden Themen wie „Anti-Diskriminierung“, um dem Radar der staatlichen Behörden zu entkommen. „Mal mehr, mal weniger erfolgreich“, so Suda.
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[7] Kimiko Suda, Chinese Lala Organizing. Identität Und Repräsentation Lesbischer Frauen in Beijing, ed. Mechthild Leutner, Berliner China-Studien (Berlin: Ostasiatisches Seminar der Freien Universität Berlin, 2013).
[8] Loretta Wing Wah Ho, Gay and Lesbian Subculture in Urban China, New York 2010, S.85.
[9] Suda, 21.
[10] Ein Beispiel, in dem ein schwules Liebespaar durch das Internet gefunden hat und chinesische Microblogs verwendet, um ihre eigene Geschichte zu erzählen und für die LGBT-Szene relevante Nachrichten zu posten.
…bevor es weitergeht: ein paar nützliche Vokabeln zum Thema LGBT
多元性别 duō yuán xìng bié – (wortwörtlich „mehrere Geschlechter“) LGBT
生理性別 shēng lǐ xìng bié - biologisches Geschlecht
性取向 xìng qǔ xiàng/性傾向xìng qīng xiàng – sexuelle Orientierung
性別認同 xìng bié rèn tóng – Geschlechtsidentität
女/男 同性戀 nǚ/nán tóng xìng liàn – lesbische/schwule Homosexualität
同性戀 tóng xìng liàn – Homosexualität/homosexuell
雙性戀 shuāng xìng liàn – bisexuell
跨性別 kuà xìng bié – Transgender
酷兒 kù’er – Queer
同志 tóng zhì – ursprünglich “Genosse”, heute ironisch konnotierter Begriff für Schwule
拉拉 lā lā – umgangssprachlicher Begriff für Lesben